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Worauf also sollte er setzen - auf Hezilow den Erleuchteten oder auf den zerlumpten Scharlatan? Auf glanzvollen Sieg des Puppenmachers oder auf seinen schmählichen Untergang? Aber hatte er sich denn nicht schon Hunderte Male an der Vorstellung gekräftigt, dass Hezilow und er eine verwickelte Schachpartie spielten - der Russe mit den schwarzen, er selbst mit den weißen Spielfiguren? Wie also konnte er dann darauf hoffen, dass er selbst und sein Schützling Julius aus dem Sieg ihres schwarzen Gegenspielers irgendwelche Vorteile zögen?

Außerstande, eine Entscheidung zu treffen, die zumindest ihn selbst länger als für ein paar Augenblicke überzeugen könnte, wandte sich d’Alembert abermals um, in der Absicht, seinen Marsch durch den Salon wieder aufzunehmen.

Die beiden Syrakuser saßen noch immer regungslos auf dem Sofa, die Arme verschränkt, mit glühenden Augen jede seiner Bewegungen verfolgend.

Einer plötzlichen Eingebung gehorchend, trat d’Alembert zu ihnen, fasste Lenka beim Arm und zog sie hoch. »Geh«, sagte er, »und komm mir erst wieder unter die Augen, wenn du meine Frage beantworten willst.«

Er legte ihr seinen Arm um die Schultern, als wollte er sie an sich drücken, schob sie aber im Gegenteil von sich fort, auf die Tür zu. Auch Fabrio wollte aufspringen, doch d’Alembert bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, sitzen zu bleiben, wo er saß.

Schweigend sahen sie beide zu, wie Lenka mit gesenktem Köpfchen davontrottete, die Tür öffnete und hinter sich zuzog, ohne sich noch einmal nach d’Alembert oder ihrem Bruder umzusehen.

»Du warst mit ihr dort unten, Fabrio«, behauptete d’Alembert, indem er sich neben dem Syrakuser aufs Sofa sinken ließ. »Und du hast auch gesehen, was ihr dort geschehen ist.«

Fabrio sah ihn unverwandt an, wortlos, die Lippen vorgeschoben. D’Alembert musste sich konzentrieren, damit er sich nicht versehentlich zu ihm hinüberbeugte, wie es in seinen Träumen so häufig geschah.

»Wenn deiner Schwester Gewalt angetan wurde, von Hezilow oder seinen Lumpenkerlen«, fuhr er fort, »solltest du mir das jetzt sagen. Und zwar zu deinem eigenen Besten.«

Der Junge zog die tintenschwarzen Brauen ein wenig zusammen, gab aber noch immer keine Antwort, ja nicht einmal ein Zeichen, dass er dem Maître zugehört hatte.

»Wenn sie einen dicken Bauch bekommt«, fuhr der mit absichtlicher Grobheit fort, »werden alle glauben, dass du deiner Schwester aufgehockt hast. Und dann werden Johanna von Waldstein und ihre heiligen Frauen veranlassen, dass Lenka und du in Waisenhäusern verschwindet. Sie wird euch trennen, Fabrio« - »uns trennen«, hätte er beinahe gesagt - »und ich kann dann nichts mehr für euch tun.«

Fabrio sog scharf den Atem ein, sein Gesicht verzerrte sich vor Angst. Im nächsten Moment flog er Charles an den Hals. »Nicht trennen«, flüsterte er, »bitte, bitte nicht!«

Wie versteinert saß der Maître da. Den Gegenstand seiner zehrendsten Träume in den Armen, wagte er nicht, auch nur einen Finger zu bewegen, aus Angst, dass Fabrio sich als bloßer Spuk erweisen würde oder, im Gegenteil, als allzu leibeswarme Wirklichkeit. »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, gelang es ihm zu erwidern, »aber dafür müsst ihr mir endlich die Wahrheit sagen.«

»Die Lenka hat’n Balg im Bauch, sie sagt, sie spürt’s genau.« Mit kindlicher Zutraulichkeit drängte sich der Knabe noch enger an ihn, beide Arme um Charles’ Hals schlingend. »Nachts wacht sie immer plärrend auf - dann hat ihr geträumt, dass’n Teufelchen aus ihrer Fotz gekrochen käm.«

Er machte Anstalten, d’Alemberts Schoß zu erklimmen, schon begann sich ein bronzefarbener Schenkel auf die weiß bestrumpften Beine des Maître zu schieben; aber d’Alembert riss sich mit letzter Kraft aus seiner Versteinerung heraus und schob den Knaben von sich.

»Das ist abergläubischer Unfug«, sagte er mit rauer Stimme und hoffte, dass seine Worte einigermaßen überzeugend klangen. »Aber diese Träume kommen offenbar daher, dass Lenka Gewalt angetan wurde, wie ich es befürchtet hatte - von Hezilow selbst oder seinen Kerlen?«

Fabrio war wieder in seine frühere Schweigsamkeit zurückgefallen. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Lippen zum Schmollmund vorgeschoben, saß er neben d’Alembert und sah aus kohleschwarzen Augen an ihm vorbei.

Sollte er Fabrio nochmals mit der Drohung bedrängen, dass er von Lenka getrennt werden könnte? Sicherlich wäre es das Klügste, dachte Charles, doch er bezweifelte, dass seine berühmte Selbstbeherrschung abermals standhielte, wenn der Knabe sich ihm wieder an den Hals werfen würde. Dabei könnte es die Lösung ihrer drängendsten Probleme bedeuten: Wenn Fabrio ihm bestätigte, dass der Puppenmacher der kleinen Lenka Gewalt angetan hatte, dann hätte er endlich etwas in der Hand gegen den Russen. Denn Julius liebte die Zwillinge aufrichtig, und mit etwas Glück und Geschick ließe sich sein berüchtigter Jähzorn so steuern, dass er den Magister für immer von sich stieße.

Noch während d’Alembert hin und her überlegte, klopfte es an der Tür.

»Wer da?«

»Verzeiht die Störung, Maître d’Alembert« ; die Stimme Pavels, seines ältlichen Sekretärs. »Madame Markéta wünscht Euch zu sprechen - dringend, wie sie sagt.«

»Führe Madame in den kleinen Salon, ich komme sofort.« Erleichtert, dass äußere Umstände ihn vom Zwang augenblicklicher Entscheidung befreiten, erhob sich der Maître, nickte Fabrio zu und eilte zur Tür, sein Stöckchen in der rechten Hand wirbelnd.

50

»Die heiße Quelle in dem kleinen Waldstück vorm Budweiser Tor. Begreift Ihr denn nicht, was das heißt, Maître d’Alembert?«

»Ein Unglücksfall, sollte man annehmen, Madame.« D’Alembert verbot sich, am Türstock Halt zu suchen, und setzte ein gelassenes Lächeln auf. »Natürlich wird die Affäre gewissenhaft untersucht werden.«

»Ein Unglück? So soll es aussehen, allerdings, Monsieur!«, ereiferte sich die Baderstochter. »Sie haben die Leich' dort hingeschleppt und in den heißen Quell geworfen, damit jeder denken soll, dass Nico im siedenden Wasser umgekommen wär.«

»Wen bei allen Göttern meint Ihr mit >sie<, chère madame?«

Markéta sah ihn aus funkelnd grünen Augen an. »Na, die Lumpenkerle - Jurij Hezilow!«

Er erwiderte ihren Blick mit einer Miene nachsichtigen Spotts, dabei war er so bestürzt, dass sich sein Magen verkrampfte. »Dass Ihr den Magister verabscheut, ist hinlänglich bekannt, Madame, aber welches Interesse sollte er an Eurem falschen Homunkel hegen?«

»Das weiß ich auch nicht.« Sichtlich widerstrebend hob sie die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Noch nicht! Aber ich schwör Euch ...«

Charles hob seinen Stock, eine eher flehende als gebieterische Gebärde. »Bitte keine Schwüre vor Sonnenuntergang!« Er bot ihr seinen Arm, und zusammen schritten sie zu den weißen Samtfauteuils, die seinen kleinen Salon dominierten. »Nehmen wir erst einmal Platz«, schlug er vor, »wenn auch nur für einen Moment. Gleich muss ich nach unten: Der Bär kommt.«

Flüchtig lächelten sie einander zu. In den vier Wochen seit Eurem Erscheinen auf Burg Krumau habe ich Euch durchaus schätzen gelernt, Madame, dachte der Maître, aber bei dieser Affäre kann ich Euch nicht zur Seite stehen.

Zögernd setzte sie sich ihm gegenüber in den Sessel. »Warum sollte Nico mit seinem verletzten Bein die Stadt verlassen und dort draußen in die siedende Quelle fallen?«, fragte sie. »Jedes Kind in Krumau weiß, wie gefährlich diese Wasserstellen sind.«

»Gestattet mir eine Gegenfrage, Madame: Was hat Euch denn überhaupt zur Morgenstunde dort hinausgezogen, in den Wald vor den Toren der Stadt?«

Sie beugte sich ein wenig vor und sah ihn eindringlich an. »Der Nabellose. Er wollte hinab zur Moldau, an den Ort, wo die Büttel ihn vor Wochen aufgegriffen haben, und vom Fluss aus zog es ihn immer weiter in den Wald.«