Das findet Ihr wohl auch närrisch, Madame? Tollhäuslerisch und verderbt? Der Maître warf Markéta einen raschen Seitenblick zu. Aber bedenkt Ihr bei Eurem Urteil auch, dass diese Künstler den einzigen wirklich verehrungswürdigen Gottheiten dienen: der galanten Schönheit und der geistreichen Illusion? Wenn es schon keinen Himmel gibt, Madame, keine Seligkeit und keinen Gottvater droben im Wolkenschloss, kommt es dann nicht letzten Endes nur darauf noch an: dass wir unseren Stil verfeinern und einander nicht in grobem Ernst, wie die Bestien in den Wäldern, an die Hälse gehen?
So monologisierte der Maître im Stillen, dabei Arm in Arm mit Markéta durch die Burghöfe wandelnd, bis sie endlich das tintenschwarze Durchhaus hinter sich ließen und ihnen ein bestialischer Gestank entgegenbrach.
»Der Bär«, sagte d’Alembert und rümpfte die Nase.
Unwillkürlich verlangsamte er seinen Schritt, aber Markéta zog ihn weiter, den Hof hinab.
Tatsächlich war das untere Burgtor schon weit geöffnet, eine Menschenmenge hatte sich dort versammelt, und von den Ställen her, aus dem Backhaus, der Butterei und dem Schlachthaus liefen weitere Knechte und Mägde auf den Hungerturm zu, der schlank und bunt in den blauen Mittagshimmel ragte.
Trommelschläge ertönten, so dumpf und gemächlich, dass man bei ihrem Klang schon das behäbige Trotten eines Bären vor sich sah. Nun bildeten die Leute unten am Tor eine Gasse, und Augenblicke später trat ein Hüne mit feuerroter Mähne und ebensolchem Bart hindurch, einen gewaltigen Braunbären am Seil hinter sich herziehend. Zum Abschluss der kleinen Prozession folgte ein halbwüchsiger Knabe, gleichfalls mit feuerrotem Haar, der rhythmisch auf seine umgehängte Trommel schlug.
»Sie sollten ihn gleich nach unten in den Graben bringen«, murrte der Maître, »die Bestie verpestet uns noch die ganze Burg.«
»Ah, Don Julius! - Ihr gestattet doch, Monsieur?« Und die Baderstochter entzog ihm ihren Arm, schlängelte sich geschickt durch die Menschenmenge und stand im nächsten Moment neben dem Grafen.
D’Alembert zögerte, es ihr gleichzutun, das Gedränge und Gejohle, der Gestank und die pulsierenden Trommelklänge stießen ihn ab. Nahe der Grabenmauer entdeckte er einen schwarzen Kasten und stellte sich darauf, um besser zu sehen, was vorn am Tor geschah.
Soeben nahm Julius dem feuerköpfigen Riesen das Bärenseil aus der Hand. »Hoppla, du Fleischberg«, rief er, »tanz schon -ich befehl’s!«
Sein Gesicht strahlte, doch es war eine trügerische Heiterkeit -selbst aus einer Entfernung von zwanzig Schritten meinte d’Alembert wieder jenes unheilvolle, allzu vertraute Funkeln in Julius’ Augen zu sehen.
Der junge Graf überragte die Menge der Diener und Handwerker, der Edlen und Gardisten fast um Haupteslänge, nur der feuerköpfige Bärenfänger war noch höher gewachsen und breitschultriger als er.
»Willst du wohl springen!«, rief Julius und zerrte am Seil, dass der Eisenring in der Nase des Bären emporflog und die urtümliche Kreatur mit in die Höhe riss. »Hossa, so ist’s recht!« Julius jauchzte, und die Menge johlte mit ihm. »Spring schon, du Fleischsack!« Er riss am Seil, dass sich der Bär taumelnd auf seine Hinterbeine aufrichtete und mit den Vorderpratzen um sich hieb.
Auch die Künstler und Schranzen waren unterdessen in hellen Scharen von der oberen Burg herangesegelt. D’Alembert unterschied den Maler mit den zitronengelben Schnabelschuhen und das Rudel splitternackter Poseure in ihrer Tigermaskerade, die weiterhin Purzelbäume in der Menge schlugen oder auf den Händen im Kreis liefen.
Die Nase des Bären war grotesk geschwollen, und an den Stellen, wo sich der Ring am Fleisch rieb, bemerkte der Maître nun eitrige Geschwüre. Auf den Hinterbeinen torkelnd, versuchte die Bestie immer wieder, sich mit plumpen Pratzen den Ring von der Nase zu schlagen oder ihrem Peiniger das Seil zu entreißen, aber all ihre Hiebe gingen unter dem Johlen der Menge ins Leere.
»Hossa, Monstrum, hüpf!«, schrie Don Julius, und die Trommel dröhnte um die Wette mit dem Brummen des Bären und dem Kreischen des Publikums.
Die getigerten Nackten stelzten und kreiselten durch die Menge, und nun liefen auch Lakaien umher, Tabletts und Körbe in den Händen, um die Edlen unter den Gaffern mit Wein und Naschwerk zu versorgen.
D’Alembert reckte den Hals und sah, dass sich Markéta bei ihrem Julius eingehängt hatte; ihre Miene wirkte angespannt, ganz im Gegensatz zu dem strahlend jungen Hünen an ihrer Seite. Sie beide hielten Weinbecher in den Händen, Julius zusätzlich zu dem Seil, an dem er immer wieder heftig zog, um den Bären zu torkelndem Tanz zu zwingen.
Auf einmal sprang der Schellennarr in seinen tomatenroten Hosen, auf dem Kopf die Narrenkappe, die wie eine ganze Aussegnungskapelle klingelte, in den freien Raum vor dem zottigen Vieh. Geschickt ahmte er das Taumeln der Bestie nach und brachte sich unter dem Raunen des Publikums eben noch in Sicherheit, ehe die Riesenpranke ihn zerschmettern konnte. Laute Zurufe, Händeklatschen und Gelächter belohnten ihn für die waghalsige Tat.
Jemand rief: »Wo sind die Tiger?«
Die Frage wurde mit heller Begeisterung aufgenommen. »Her mit den Kätzchen!«, hörte der Maître. »Sie sollen gegen den Bären kämpfen!«
Und mit einem Mal, buchstäblich von einem Moment zum anderen, verwandelte sich die Menge in eine einzige ungeheure Bestie, die aus hundert Mäulern nur noch einen Schlachtruf schrie: »Die Kätzchen - kämpfen! Die Kätzchen - kämpfen!«
D’Alembert hatte eine solche Verwandlung schon einmal miterlebt, bei einer Bauernrevolte vor zwanzig Jahren, als ein halbes Hundert plumper Männer, nur mit Forken und Flegeln gewappnet, sich unter trunkenen Gesängen einer Übermacht schwer bewaffneter Wehrknechte entgegenwarf. War es erst einmal so weit gekommen, dass die Bestien in den Menschen die Oberhand gewonnen hatten, dann konnte selbst der beste Bändiger sie nicht mehr seinem Willen unterwerfen - zumindest nicht in diesem Moment archaischer Ekstase, in dem alle Körper, Seelen und Herzen zu einem einzigen, ungeschlachten Leib verschmolzen schienen.
Auf dem schwarzen Kasten balancierend, den irgendwer hier an der Mauer abgestellt hatte, begnügte sich der Maître damit, still zu beobachten, wie die Dinge sich entwickelten, doch er fürchtete das Ärgste, denn die Szenerie enthielt alle benötigten Zutaten für einen bestialischen Tumult.
Die »Kätzchen« unternahmen einen schwachen Versuch, ihr aufgemaltes Fell und alles Darunterliegende zu retten, aber die Menge packte sie mit drei Dutzend mitleidlosen Händen und stieß sie nach vorn. »Kämpfen, kämpfen!«, kreischte es weiter aus hundert Mäulern, während zwei der Getigerten, Junge und Mädchen, von der Menge ausgespien wurden und auf den freien Platz vor dem Bären taumelten.
Für einen Moment lähmenden Entsetzens glaubte d’Alembert, dass es Fabrio und Lenka wären, dann erst erkannte er die Gesichter hinter den Tigermasken. Der Maler Gabriele hatte die beiden unlängst mitgebracht - Piero und Clarissa, wenn er sich recht erinnerte -, Zwillinge angeblich auch sie, wie es die allerneueste Mode befahl.
Die Menge stöhnte auf, und der Schlachtruf verdorrte auf hundert Lippenpaaren, als das Mädchen direkt vor dem Bären zu Boden fiel. Mit seinen winzigen Augen stierte das Tier ins Weite, als ob es sich fragte, wie nun weiter zu verfahren sei. Dann senkte es unvermittelt den Kopf und starrte auf Clarissa hinab, die mit einer Miene leeren Entsetzens zu ihm emporsah.
Der Sohn des Bärenfängers hatte die Hand mit dem Schlegel sinken lassen. Einen endlosen Augenblick lang war nichts als das Wimmern des nackten Mädchens zu hören, das in seiner lachhaften Tigermaskerade vor dem Bären lag und seine Todesangst aus sich herausfiepte. Dann sackte die Bestie nach vorn.