Выбрать главу

D’Alembert, der zu diesem Zeitpunkt seine Augen längst geschlossen hatte, vernahm einen zähen Schmatzlaut, während seine Einbildungskraft ihm mit unerbittlicher Genauigkeit vormalte, wie die Überreste des Mädchenkörpers unter den Vorderpratzen hervorquollen, ein Frikassee aus Knochensplittern, Fleisch und Blut.

»Bekennet Eure Sünden - büßet und schwöret dem Frevel ab -preiset den Namen des He-he-herrn!«

Für einen kurzen Moment fürchtete der Maître, dass er tatsächlich das Bewusstsein verloren haben könnte. Aber er stand noch immer auf dem Holzkasten neben der Grabenmauer, und das Dutzend jubilierender Nonnen, das vom Spital her über den Burghof wandelte - die knöchellangen schwarzen Kutten, die ihren Bewegungen etwas Schwebendes verliehen; die strengen Gesichter, umschlossen von strahlend weißen Hauben; die gleichförmig sich öffnenden und schließenden Münder, aus denen heller Gesang brach; die Weihrauchwedel, die sie rhythmisch über der Menge schwenkten; die Glöckchen, die sie bei jedem »He-he-herrn!« wie rasend erklingen ließen -, all das wirkte zwar närrisch wie die Szenen mancher Träume, gehörte aber zweifellos der Wirklichkeit dieses Junitages an. Zumal d’Alembert einige Schritte hinter den singenden Nonnen nun auch noch eine durch und durch weltliche Gestalt erblickte, mit glänzender Glatze und puterrotem Antlitz, das wie ein Lampion über dem eng anliegenden schwarzen Gewand nach spanischer Mode schaukelte. Was aber hatte Kasimir von Rosert mit Johannas frommen Weibern zu schaffen?

»Bekennet Eure Sünden, büßet und schwöret dem Frevel ab, preiset den Namen des He-he-herrn!«

Während der Maître den zwölf heiligen Frauen und dem Medikus entgegensah, ängstlich bemüht, die zermalmte Clarissa aus seinem Blickfeld und seinen Gedanken zu verbannen, krachte eine Salve von Gewehrschüssen in sein Gehör. Er fuhr herum, verlor nun ernstlich die Balance, stolperte von seinem hölzernen Podest und ging im selben Moment zu Boden wie der Braunbär unten am Tor.

Im Fallen sah d’Alembert eben noch, wie Julius einem Gardisten seine rauchende Flinte zurückgab, dann musste er tatsächlich für einen winzigen Moment in die süße Schwärze einer Ohnmacht abgeglitten sein.

Als er die Augen wieder öffnete, leuchtete über ihm von Roserts Schädel wie ein Erntemond. »Madame Markéta hat drum gebeten, dass ich den Leichnam noch einmal beschaue, ehe er beigesetzt wird.«

D’Alembert sah ihn nur ratlos an, zu viele Fragen schwirrten durch seinen viel zu benommenen Kopf. Außerdem standen die heiligen Frauen im Kreis um ihn und den Medikus, unverdrossen bimmelnd, Weihrauch verspritzend und aus zwölf selbstgerechten Mündern singend: »Bekennet Eure Sünden, büßet und schwöret dem Frevel ab, preiset den Namen des He-he-herrn!«

Er reichte dem Medikus eine Hand, tastete mit der anderen nach seinem Stöckchen und ließ sich auf die Füße ziehen. Erst als von Rosert sich nach dem länglichen Holzkasten bückte und ihn ächzend auf seine Schulter hob, dämmerte dem Maître, dass er die letzte Behausung des unglücklichen Flößerbuben als Aussichtspunkt missbraucht hatte.

»Und Madame Markéta hat Euch gebeten?«, fragte er nach.

»Nun, nicht direkt mich. Sie wünscht, dass ein Kundiger den Leichnam beschaut, und da ihrem Herrn Vater das Privilegium entzogen wurde ...«

»... kommt nur noch Ihr dafür in Frage?«, vollendete d’Alembert, dem mehrere Schleier gleichzeitig von den Augen fielen.

»So ist es, Maître d’Alembert«, bestätigte der Medikus. Er machte den heiligen Frauen ein Zeichen, worauf diese sich je zu sechst an seinen Seiten formierten.

Die überlebenden Tigerkätzchen drängten sich fröstelnd in die Arme ihrer schnabelbeschuhten Beschützer, und Don Julius ließ sich mit finsterer Miene von Markéta da Ludanice zurück in die obere Burg führen. Am Burgtor versuchten die Lakaien unter Rufen und Flüchen, die Überreste der kleinen Clarissa unter dem Kadaver hervorzuziehen. Mit Tränen in den Augen standen der Bärenfänger und sein Sohn dabei, ohne einen Finger zu rühren. Währenddessen lehnte d’Alembert noch immer an der Grabenmauer und schaute, seine vom Sturz beschmutzten Kleider beklopfend, dem Medikus und den heiligen Frauen hinterher, bis sie allesamt im gräflichen Spital verschwunden waren und nur ihr Chorgesang noch über dem Burghof zu schweben schien: ». den Namen des He-he-herrn!«

52

Der Junge in der Quelle, umwabert von Nebel schwaden: Das Bild verfolgte Flor bis in den Schlaf. Seine blonden Locken, vor Nässe gedunkelt, die milchigen Augen, das Gesicht in Dampf und Angst zerfließend - das war schon mal, schon einmal, dachte er, bei verhängtem Fenster in Markétas Schlafgemach liegend, aber wo nur, wo?

Und dazu Markétas Ausruf, als sie den Knaben hinterm Nebelschleier erspäht hatte: »Flor, um Himmels willen, Flor!«

Dabei hatte er ja neben ihr gestanden, unter den Eichbäumen, auf der kleinen Lichtung, an deren Rand die Quelle dampfte. Und hatte Markétas Hand umklammert wie früher, wie vor kurzem noch die kleine, schwielenreiche Hand der Steinerin.

»Ra-raus, Ro-rolf!« Er begann zu schreien, erschrocken mehr über Markétas Ausruf als über das Nebelbild, das sich ihren Augen bot: der Junge, aus dem Felsloch kriechend, von Dampf umwabert, wie ein riesenhafter Säugling, so nackt und rot. Als ob die Erde selbst ihn gebären würde! »Krie-kriech, Rolf! Rasch, Ro-rolf! Ra-raus!«

Das war schon mal, schon einmal, dachte er wieder, aber wo nur, wo?

»Die Welt hinterm Nebel«, hörte er Markéta flüstern, dicht an seinem Ohr. Sie hielt ihn umschlungen, zog ihn langsam auf die Quelle zu und flüsterte unablässig auf ihn ein, Worte, deren summender Klang ihn tröstete, auch wenn er ihre Bedeutung nicht verstand: »Ganz wie in meinem Traum, Mutter Bianca. Und jetzt er: Nico, natürlich Nicodemus, nicht Flor. Und doch genauso, wie mir Flor mal erschienen ist, ganz zu Anfang: als Bote aus der Welt hinterm Nebel. Aber ich versteh’s nicht, immer noch nicht, ich begreif bald gar nichts mehr!«

Sie ging am Rand der Quelle in die Knie, wollte ihn mit sich hinabziehen, aber Flor machte sich los.

»Ni-nicht zurück!« Wieder begann er zu schreien, während er unverwandt auf den dampfumwallten Körper in der Quelle starrte, die aufgestemmten Ellbogen, der kochendrote Kopf auf einen Arm gebettet wie zum Schlaf. »Ra-raus, Ro-rolf! Ni-nicht zurück!«

»Er ist tot«, hatte er Markéta flüstern gehört. »Flor, begreifst du nicht: Er ist tot!«

Da hatte er sich neben Markéta niedergehockt, sterbensmatt war ihm mit einem Mal zumute gewesen. Als schaute er in einen Spiegel, so hatte er den Toten hinter den Nebelschleiern angesehen; in einen Spiegel, ja, aber der zeigt nicht mich selbst, sondern einen wie mich, aus Dampf und Dreck geboren.

Er lag in Markétas Bett und sah doch ihn die ganze Zeit vor sich: Nico, wie sie ihn genannt hatte. Er spürte die feuchte Hitze, die von der Quelle, von dem kochenden Körper aufstieg, und fror doch immer noch am ganzen Leib. Immer frier ich, frier ich, dachte Flor, seit damals, als ich in der schwarzen Halle aufwach und das Fiepen im Finstern hör und den Drachen der Nacht.

Vor der Schlafkammertür machte sich jemand rumpelnd zu schaffen, Flor hielt den Atem an und lauschte angespannt nach draußen.

»Schscht, ich bin’s nur - Lisetta«, hörte er und verkroch sich noch tiefer unter Markétas Pfuhl. Markéta und Lisetta, dachte er, bei den beiden Frauen war er in Sicherheit. Wie früher bei der Steinerin, nein, anders, wärmer. Er probierte die Wörter aus - es gibt so viele Wörter und nie will eins wirklich passen: Meist sitzen sie schief auf den Dingen, wie die schmierige schwarze Mütze auf Hezilows Kopf.