Vor dem Fenster seines Schlafgemachs ging eben die Sonne auf - Mittwoch, durchfuhr’s sie, heut wird der kleine Nico drunten auf dem Gottesacker begraben. Sie verspürte einen Stich. Später, dachte sie, nachher würde sie zur Beerdigung gehen und mit dem Flößer reden, dem Vater des kleinen Nico, und auch mit ihrem eigenen - mit Vater Sigmund.
Unverwandt sah Julius sie an, aus rehbraunen Augen, die wie von Tränen schimmerten. Was nur war mit ihm? War es ihr Anblick, ihre Gegenwart, die ihn so sehr rührten? Liebte er sie so innig, dass er nichts anderes mehr sich wünschte, als ganz nah bei ihr zu sein? Seine Hand streichelte ihre Wange, sacht zog er sie zu sich heran, mit behutsamer Zärtlichkeit, ganz ohne die ungestüme, gebieterische Begierde, mit der er schon mehr als einmal über sie gekommen war.
Er beugte sich auf sie herab, und seine langen braunen Haare fielen wie ein Vorhang über sie. Warm und weich glitten seine Lippen über ihre Schläfe, die Wange hinab und drückten sich sacht auf ihren Mund, den sie bereitwillig für ihn öffnete. Sie spürte das Zucken seiner Unterlippe, und da durchströmte sie eine Woge so heißer Zärtlichkeit, dass auch ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, zog seinen warmen, schlanken Leib auf sich und nahm ihn mit einem erwartungsvollen Seufzer in sich auf.
Wie wundervoll, ihn in ihrem Innersten zu fühlen. So sachte, in so vollkommenem Gleichklang bewegten sich ihre Körper und Seelen, als ob sie wahrhaftig zu einem Wesen verschmolzen wären, wie unlängst in ihrem Traum. Sie senkte die Lider und erblickte die samtrote Treppe vor sich, deren Stufen bei der kleinsten Berührung erbebten. Sie öffnete ihre Augen wieder und sah in Julius’ Gesicht, das sie noch immer anlächelte, voll überströmender Zärtlichkeit.
Wenn es ein Paradies gibt, eine Seligkeit, ein Elysium, dachte Markéta, dann muss es so wie unsere Liebe, so wie diese süße Umschlingung des Liebsten sein. Nicht leidenschaftlicher, nicht raffinierter, nicht gieriger, nur niemals endend in alle Ewigkeit.
Plötzlich hoben unten in der Stadt die Glocken zu läuten an, und der schüttere Klang zerriss binnen weniger Herzschläge das Gewebe ihrer Zweieinigkeit. Julius’ Augen verdunkelten sich, seine Miene wurde abwesend, als ob er auf ein Geschehnis in der Ferne horchte. Zugleich begann er sich heftiger auf ihr zu bewegen, ihren leisen, gemeinsamen Rhythmus zu zerstören, der schmiegsame Zauberstab seiner Zärtlichkeit wurde wieder zum Zepter des Herrschers, der Lust empfing, sich der Begierde ergab, ohne auch seinerseits zu geben.
Immer heftiger stieß er in ihren Schoß hinein, nun tatsächlich im Takt der Glocken, die zur Bestattung des falschen Homunkel riefen.
Als er sich mit einem heiseren Ausruf in sie verströmte und ihre Kehle, ihre Brüste mit Küssen bedeckte, erschauerte auch Markéta unter Wellen der Ekstase, wenngleich der vollkommene Gleichklang, in dem sie sich für selige Momente bewegt hatten, durch die Glocken zerstört worden war.
Pater Hasek, die Kirche, dahinter der Gottesacker: Sie musste sich sputen.
Julius blieb im Himmelbett liegen, rücklings hingestreckt, ein Raubtier von glatter, wölfischer Schönheit. Mit spöttischem Lächeln sah er zu, wie sie sich in das schwarze Kleid hineinkämpfte, das Bronja gestern Abend noch für sie herausgesucht und hierhergebracht hatte, ins gräfliche Schlafgemach.
Die Glockenklänge begannen schon zu verhallen, als Markéta ihm eine Kusshand zuwarf und mit zerzausten Haaren, schwarze Chopinen in den Händen schwenkend, barfuß aus dem Zimmer lief.
56
Wir hausen auf einer toten Kugel, die durch ein gleichgültiges Universum rollt, hatte der Maître gesagt, an ihre Kruste geklammert, bis ein Windstoß uns hinausbläst in die tödliche Kälte des Alls.
»Du wirst auferstehen, Nicodemus Kudaçek, in der Jugend deines Fleisches und in der Herrlichkeit Gottes am Jüngsten Tag«, hatte dagegen Pater Hasek soeben gepredigt. Nun standen die zwei Dutzend Trauernden mit starren Gesichtern um Nicos Grab herum und sahen zu, wie die Kirchdiener den Sarg in der Erde versenkten.
Die Glocke der Aussegnungskapelle bimmelte unablässig, ein dünner, dürftiger Klang, der Markéta frösteln machte. Dabei schien die Sonne auf den Gottesacker herab und ließ die Moldau sieben Schritte neben ihnen golden glitzern.
Zuletzt hab ich vor fünf Jahren hier am offenen Grab gestanden, dachte sie, als Mutter Bianca beerdigt wurde. Aber mehr noch als das klaffende Erdloch erinnerte sie seltsamerweise der Ausspruch des Maître an ihre Mutter, oder vielleicht nicht allein an Bianca, sondern an Mütter überhaupt.
Tatsächlich sah sie jedes Mal, wenn ihr diese Sentenz in den Sinn kam, eine riesige, steinerne Mutterbrust vor sich, an die sich zehntausend Menschlein ängstlich klammerten. Bis jener Windhauch sie in alle Himmels- und Höllenrichtungen zerblies.
D’Alemberts eleganter Trübsinn war wie ein langsam wirkendes Gift, das ihr Gemüt umso gründlicher verdüsterte, je tiefer er sie ins Vertrauen zog.
Wie gerne wär ich jetzt wieder bei Julius, dachte Markéta, in seinen Armen, unter dem moldaublauen Samthimmel seines Pfuhls. Doch stattdessen trat sie, als die Reihe an sie gekommen war, vor das offene Grab, warf eine Hand voll Erde auf den Sargdeckel, was ein hohles Poltern hervorrief, und schritt dann auf Karel Kudaçek und seine Frau Olga zu, um den Flößern ihr Mitgefühl zuzumurmeln.
Die trauernden Eltern waren von Angehörigen und Freunden umringt. Wieder und wieder wurde die zierliche Mutter umarmt und die Hand des vierschrötigen Vaters geschüttelt. Pater Hasek, rund wie ein Fass in der glänzend schwarzen Soutane, stand einen Schritt neben den beiden, die vor Schmerz regelrecht versteinert schienen.
Als Markéta sich dem Elternpaar näherte, wichen die Umstehenden zurück, sodass ein leerer Kreis um sie herum entstand. »Olga, Karel«, sagte sie, »es tut mir so ...«, dann verschlug es ihr die Sprache. Der Flößer wandte sich um, zog seine Frau mit sich und begann ein leises Gespräch mit dem Pater, der seinerseits nicht erkennen ließ, dass er ihre, Markétas, Gegenwart überhaupt bemerkt hatte. Einige Augenblicke wartete sie noch, zwischen Beschämung und Empörung schwankend, aber die Kudaçeks blieben mit dem Rücken zu ihr stehen, obwohl Karel s Wortwechsel mit Pater Hasek schon wieder beendet schien.
Zögernd drehte Markéta sich wieder um und sah zu, wie die Kirchdiener das Grab zuschaufelten und Blumen und Tannengrün auf den kleinen Hügel häuften.
Von Vater Sigmund war weit und breit nichts zu sehen, dabei waren er und der Flößer seit vielen Jahren befreundet. Auf einmal sah Markéta ihn vor sich, wie sie ihn in der verdunkelten Stube zurückgelassen hatte, in einem Wirrwarr aus Essensresten und umgeworfenen Weinkrügen. Womöglich war er mittlerweile so betrunken, dass er Nicos Beerdigung vergessen oder es vorgezogen hatte, sich seinen Freunden und Nachbarn nicht zu zeigen.
Erst als sie den salzigen Geschmack auf ihren Lippen spürte, merkte sie, dass sie weinte.
Mutter Bianca, dachte sie, hatte niemals, kein einziges Mal versäumt, die Messe aufzusuchen, die Beichte abzulegen, Rosenkränze zu beten oder was immer Pater Hasek ihr an Bußen auferlegte. Aber in meinem Traum, Mutter, leidest du Höllenqualen, bald jede Nacht und Mal für Mal.
Wieder musste sie an Julius denken, das zerbrechliche Paradies ihrer Liebe. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die Augen, doch es kamen immer weitere Tränen nach.
»Verzeiht, Madame, bitte verzeiht!«
Sie wandte sich um und sah durch den Schleier aus Tränen eine kleinwüchsige Gestalt im schwarzen Gewand, die mit beiden Händen ihre Rechte zu erhaschen suchte.
»Bitte tragt meinem Karel nichts nach, Madame, es ist nur der Schmerz!« Olga Kudaçek bekam Markétas Hand zu fassen und bedeckte sie mit Küssen und Tränen.
»Um Gottes Willen, Olga.« Sie versuchte die trauernde Mutter an sich zu ziehen, aber die wich zu ihrem Mann hin zurück. Ihr Gesicht drückte so viel Angst aus wie die Miene des Flößers kalten Zorn.