»Na, das wurd auch Zeit, Sargenfalt.« Julius ließ sich auf der Bettkante nieder, reichte Markéta eine Hand und zog sie zu sich herab.
»Hoffen wir, dass Hezilows jüngstes Wunder ein Weilchen vorhält - zumindest, bis Ihr uns berichtet habt.« Er tätschelte die schlaffe Wange des Astrologen. »Also lasst hören, sofort.«
Mit offenbarer Bestürzung sah Sargenfalt zu seinem Gebieter auf.
»Die Krankheit, bitte um Vergebung«, murmelte er, »ich war dort, viele Male dort, Euer Liebden, aber der arge Husten hat mich jedes Mal wieder rausgerissen, noch ehe ich die gesuchten Geister traf.«
»Dann fahrt jetzt wieder hin, die Augen zu und hopp!« Julius tätschelte stärker, dass es beinahe wie Backpfeifen klatschte. »Kein Husten quält Euch mehr, was zögert Ihr?«
Der Astrolog riss die Augen auf. »Das magische Kraut, Euer Liebden, ich muss die Zauberpfeife rauchen, sonst misslingt der Geisterflug.«
»Dann stopf und rauch er, guter Mann!« Julius zog ihm die Sternendecke weg, dass der Astrolog in jämmerlicher Blöße lag, ein Gerippe in fleckigem Nachtgewand. »Puh, wenn der Duft nur Eure Geister nicht vertreibt! Wo ist das Kraut? Hol er’s! Paff er, orakle er, hopp!«
Mit furchtsamer Miene rappelte der Kranke sich auf und tappte durch seine Stube zum Pult, wo er Tabaksbeutel und Pfeife aus der Lade nahm. »Freilich weiß ich nicht«, gab er zu bedenken, »wie das Zauberkraut sich mit dem Heiltrunk vermählt. Möglich, dass dieser mich hinabdrückt, während jenes mich heraufzuziehen trachtet ...«
»Schwadronier er nicht, sondern kokel endlich an!« Julius zwinkerte Markéta zu, aber sie setzte ihre störrische Miene auf und weigerte sich, zu ihm hinzusehen.
Wahre Gewitterstürme tobten in ihrem Busen, während sie der Debatte lauschte und zusah, wie der Alte sich eilte, die Befehle seines Herrn auszuführen. Fahr dazwischen, forderte sie sich selbst auf, der Kranke soll sich schonen, er muss erst wieder zu Kräften kommen - wer weiß, was für ein Teufelszeug aus Hezilows Hölle der Medikus ihm da eingeflößt hat! Wenn er die Geisterreise in drei Tagen unternimmt, ist’s immer noch gute Zeit, mahnte sie sich, blieb aber wie gelähmt auf der Bettkante sitzen und sah zu, wie der Alte sich mit zitternder Hand die Pfeife stopfte. Endlich brannte das Kraut, röchelnd sog er den Rauch ein, gegen sein klobiges Fernrohr gelehnt.
»Sargenfalt ist mein allerbester Geisterseher«, hörte sie Julius an ihrer Seite rühmen.
Einen Moment lang rang sie noch mit sich, dabei stand ihre Entscheidung längst fest. Mit einem Lächeln wandte sie sich an den Astrologen. »Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich im Haus eines Heilers aufgewachsen. Als Badergehilfin sollt ich Euch ermahnen, diese Pfeife beiseite zu legen und erst Eure gänzliche Genesung abzuwarten, ehe Ihr Euch auf eine so gefahrvolle und anstrengende Reise begebt.« Sie erhob sich und trat neben den Sterngucker, der mit rasselnder Lunge an der Pfeife sog. »Aber als Tochter der Bianca da Ludanice muss ich anders handeln«, fuhr sie fort, »und bitt Euch hiermit, werter Herr, ja ich fleh Euch an: Wenn Ihr jetzt zu den Geistern reist, sucht meine Mutter Bianca auf und befragt sie, welche Qualen sie leidet, welche Botschaft sie mir zuzuschreien versucht in meinen Geisterträumen Nacht für Nacht!«
Sargenfalt sah sie aus trüben Augen an, sein Antlitz im Sternenlicht glitzernd vor Schweiß. »Eure Frau Mutter?«, echote er. »Wie könnt ich die so schnell finden im Geistermeer? Was glaubt Ihr, wie viel Mühe und Geduld es mich gekostet hat, wie viele hundert Geistergespräche, bis ich zumindest eine Spur jener Ludovica da Ludanice fand, der Großtante Euer Mutter Bianca?«
Zaghaft sog er aufs Neue an seiner Pfeife, von der ein schwerer, süßlicher Duft nach überreifen Pilzen aufstieg. »Die Geister haben nur wenig eigenen Willen und noch weniger Bewusstsein«, fuhr er fort, »sie sind wie glimmende Lichtfäden im Nebelmeer. Auf der Suche nach Madame Bianca schwimm ich in diesem Ozean von einem Fädchen zum andern, frag und frage und bekomme nur selten Antworten, die klarer wären als ein Seufzer, ein Murmeln, gewisperte Erinnerung an schattenhafte Fetzen eines halb vergessenen Traums.«
Er nahm die Pfeife aus seinem Mund und hielt sie Markéta hin.
»Warum reist Ihr nicht selbst dort umher, chère madame? Wenn Eure Frau Mutter Euch im Traum schon erschienen ist, wenn sie bereits versucht hat, Euch etwas mitzuteilen, dann werdet Ihr sie auch finden im Schattendampf. Denn dann will sie von Euch gefunden werden, und sie wird spüren, dass Ihr es seid, die dort in der Geisterwelt nach ihr sucht.«
Zögernd nahm Markéta die qualmende Pfeife entgegen. Die Versuchung war übermächtig, und was sollte ihr schon geschehen? Schließlich war auch Sargenfalt schon hundertmal, wie er selbst gesagt hatte, in die Nebelwelt gereist und wohlbehalten zurückgekehrt.
Sie sah zu Julius, der noch immer auf der Bettkante hockte und ihren Blick abwesend erwiderte. Fragend blickte sie ihn an, endlich nickte er ihr zu, und da setzte Markéta die Pfeife an ihre Lippen und nahm einen kräftigen Zug.
Sie hatte auch früher schon ab und zu an Vater Sigmunds Pfeife gesogen, daher spürte sie jetzt nur ein leichtes, durchaus angenehmes Kribbeln in der Kehle, aber nicht den schwächsten Hustenreiz. Der Rauch schmeckte nach modrigen Waldfrüchten, und als sie ihn nochmals einsog, begann sich ihr Geist mit einem brodelnden Nebel zu füllen.
»Geleitet mich zu meinem Lager«, murmelte Sargenfalt. Er wirkte benommen, schwer stützte er sich mit einer Hand am Fernohr ab, und seine Linke tastete im Leeren umher. »Der Schwindel kehrt zurück.«
Markéta legte die Pfeife aufs Pult, fasste den Kranken beim Arm und führte ihn zu seinem Bett. Julius hatte sich erhoben und war zur Tür hin zurückgewichen, mit einem Kopfschütteln bedeutete sie ihm, dass von Sargenfalt heute sicher nichts mehr berichten würde. Ihre Arme und Beine fühlten sich seltsam leicht an, ihr ganzer Leib schien sich mit dem Nebel zu füllen, der von ihrem Kopf abwärts strömte.
Kaum lag der Astrolog unter seiner Sternendecke, als sich seine Lider auch schon flatternd senkten. »Bald ... bald«, hörte sie ihn murmeln und beugte sich noch tiefer über ihn. »Ich komme ...«, wisperte er, dann fiel sein Kopf zur Seite und er schlief so tief und fest, dass keine Befehle oder Backpfeifen ihn mehr erreichten.
Seine Seele, dachte Markéta, fliegt durchs Geistermeer.
Auch sie selbst fühlte sich so schwebend leicht wie eine körperlose Wesenheit, als sie an Julius’ Arm die Wendeltreppe hinabflog und über die nachtdunklen Burghöfe segelte, ihrem Schlafgemach entgegen und dem Nebelmeer, in dessen Tiefe Mutter Bianca auf sie wartete. Wenn sie die Augen schloss, sah Markéta die glimmenden Fäden bereits vor sich, die im Innersten des Nebels umeinander glitten, mit matten Stimmen murmelnd und wispernd.
Dass Julius sie vor der Tür zum Frauenzimmer verließ, Bronja sie auskleidete und zu ihrem Himmelbett geleitete, Flor sich schlaftrunken zur Seite rollte - all das kam Markéta schon nur noch wie ein Traum vor, unwirklich neben der seidigen Nebelwand, durch die ihre Seele bereits hindurchschwebte, noch ehe ihr Körper die ebenso seidenweiche Matratze berührte.
Sie flog durchs graue Nebelmeer, in dem Milliarden Glimmerfäden zitterten. Die Fäden waren wie Glühwürmchen, nur dass sie blasser, kälter glommen, nicht golden oder rötlich, sondern engelhaft weiß. Näherte sie sich einem Faden, so kringelte der sich zusammen und glitt davon, im nächsten Moment schon ihren Blicken entschwunden. Versuchte sie eins der Fädchen anzurufen, so erklang ein Seufzer, ein sterbensmattes Schluchzen, dann ringelte auch dieses Fetzchen sich durch den Nebel hinweg.
So war’s ihr schon als kleines Mädchen ergangen, dachte sie auf einmal, wenn sie sich im Keller unter der Badestube versteckt hatte und die Luft dort von feuchtem Dampf erfüllt gewesen war. Ein Nebelmeer, in das sich Lichterfäden woben, durch tausend hölzerne Ritzen zu ihr herab. Und Mutter Bianca rief nach ihr, mit leiser Stimme, die wie zerbrochen klang vor Angst: »Markéta! Kindlein, o mein Gott!«