Eines zumindest haben deine Klagen bewirkt, Mutter Bianca: Mein Zorn auf den Puppenmacher hat an Kraft verloren, dabei trau ich ihm so wenig wie eh und je. Niemals werd ich ihm glauben können, und nie mehr werd ich meines Argwohns sicher sein.
Sie nahm Flor bei der Hand und ging zur Tür. Draußen warteten Jan Mular und Bronjas Bruder Mikesch, und Markéta erschrak, als sie die beiden sah, die ihr damals, kurz nach Julius’ Ankunft, unten auf der Brücke entgegengetreten waren. Ein unheilvolles Zeichen, dachte sie, aber dann verwies sie sich den Aberglauben und nickte den Gardisten gleichmütig zu.
Von den Burghöfen drang dumpfes Dröhnen und Tosen herauf, als ob die Moldauschleuse geborsten wäre. Fanfaren ertönten, Pferde wieherten, erregte Stimmen schrien durcheinander, während unablässig Kutsche um Kutsche durchs obere Tor in die Burg einfuhr.
»Komm, rasch«, sagte Markéta zum Nabellosen, der gestern endlich wieder sein Schweigen gebrochen und ihr in langer, stammelnder Rede von Steinerin und Steiner, Herrn Veit und, vor allem, vom Drachen der Nacht in jener schauerlichen Halle berichtet hatte. Wie konnte Hezilow ein »Erlöser« sein? Aber wie könnte sie fortan noch gegen ihn eintreten, gegen den teuflischen Puppenmacher, dem Mutter Biancas letzte, verzweifelte Hoffnung galt?
»Er wird menschliche Körper schaffen, in die Geister wie ich aus der Nebelwelt hinüberfahren können ... «
Sie nahm Flors Hand fester in die ihre und zog ihn mit sich, Treppe um Treppe nach unten, während die beiden Gardisten mit donnernden Stiefeltritten hinter ihnen hereilten.
Draußen der Hof war gesteckt voll mit Gaffern, die allesamt aufwärts drängten, zum obersten Burghof, einander mit Händen und Knien vorwärts schiebend. Verbissen kämpfte sich Markéta durch die Menge, wobei sie Flor am Handgelenk mit sich zog. Endlich hatten sie den höchsten Hof erreicht, wo eben eine riesige schwarze Kutsche durchs Tor fuhr, von sechs Schimmeln gezogen. Eine gebieterische Stimme rief: »Seine Majestät, Rudolf II. allerdurchlauchtigster, großmächtigster Kaiser!« Fanfarenstöße ertönten, gefolgt von Trommeln, schmetternden Trompetenklängen und schließlich sogar einer Salve von Kanonenschüssen, die das ganze Gemäuer erzittern ließen.
Flor erstarrte vor Schreck, als die Schüsse explodierten, aber Markéta redete beruhigend auf ihn ein. Endlich ließ er sich weiterziehen, näher an die Karosse heran. Gerade sprang die Kutschtür auf, steifbeinig stieg eine hochgewachsene Gestalt aus, in scharlachrotem Umhang, auf dem Kopf einen schwarzen Hut mit langer, wippender Feder, der ein Gesicht mit Julius’ feinen Zügen, Julius’ Nase, Julius’ spitzem Kinn verschattete. Dann schloss sich ein Wall baumlanger Gardisten um den Kaiser, der eilends auf die Tür zum Fürstentrakt zustakste und einen Lidschlag drauf verschwunden war.
Drei weitere holpernde Herzschläge später stand d’Alembert vor ihr, sein Gesicht erschreckend nackt und glitzernd vor Schweiß.
»Was ... was ist mit Euch, Maître?«
»Pardonnez-moi, madame, es pressiert.« Er streckte eine Hand nach Flors Engelsärmel aus, worauf der Nabellose wimmernd hinter Markéta Deckung suchte. »Der Kaiser wünscht die Kreatur zu inspizieren, noch vor der Schildkrötensuppe.«
»Nun denn, bringt ihn zu Ihrer Majestät, Monsieur.«
D’Alembert fixierte sie mit gerunzelter Stirn, auf der dicke Schweißtropfen standen. Abermals zog er halbherzig an Flors Ärmel, aber der Nabellose wimmerte nur umso lauter und krallte sich mit beiden Händen in ihr Herbstzeitlosenkleid.
»Ich fürchte, für Euer Problem gibt es nur eine elegante Lösung, Monsieur«, sagte Markéta. »Wenn Ihr nicht wollt, dass der Kaiser Euch zürnt, lasst mich Flor zu ihm bringen.«
Er nickte mit der Miene eines Geschlagenen. Der Maître ist krank, dachte sie, auch er ist geschwächt in seinem Kampf gegen Hezilow. Sie legte Flor einen Arm um die Schultern und folgte d’Alembert in den Fürstentrakt, durch das reich mit italienischen Fresken verzierte Treppenhaus bis ins zweite Geschoss empor.
Ihr Kopf dröhnte noch immer vor Schmerzen, und das Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf, nicht allein von der Mühsal des Treppensteigens im Korsett. Hand in Hand gingen sie durch eine Flucht prachtvoller Säle und Gemächer, in denen sie nie zuvor gewesen war. Drei Schritte vor ihnen ließ der Maître sein Stöckchen durch die Luft wirbeln, als ob er auf unsichtbare Trommeln schlüge.
Vor einer weißen Doppeltür mit dem Wappen der Rosenberger standen zwei kaiserliche Gardisten. Sie wechselten rasche Blicke, als das sonderbare Pärchen hinter dem Obersthofmeister nahte, goldschopfiger Engel und Herbstzeitlose.
»Die Kreatur«, sagte d’Alembert, mit seinem Stöckchen auf Flor deutend, »nebst Betreuerin«, das Stöckchen ruckte weiter und deutete nun auf sie.
Die Tür glitt auf, und hinter d’Alemberts schmalem weißen Rücken traten Flor und Markéta in einen Saal, in dem es so dämmrig war wie zur späten Abendstunde; dabei hatte es gerade erst drei geschlagen. Die väterliche Majestät, dachte Markéta, scheut das Sonnenlicht nicht minder als ihr Sohn. Nur allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das rauchige Licht, das dicke weiße Kerzen in Silberlüstern spendeten. Die Fenster hinaus zur Moldau waren allesamt hinter dunklen Vorhängen verborgen.
Als d’Alembert innehielt, blieben auch sie und Flor stehen, mitten im Saal. Sie erkannte eine Tafel, prächtig gedeckt mit weißem Linnen, Gold und Silber, doch viel kleiner, als sie erwartet hatte. Allenfalls ein Dutzend Personen auf hochlehnigen Stühlen, die meisten ihr unbekannt, alle schwarz gekleidet, mit spanischer Strenge, an der Spitze der Tafel die väterliche Majestät. Don Julius, dem Kaiser gegenüber, wandte ihr den Rücken zu, und er drehte sich auch nicht um zu ihnen, als d’Alembert mit heiserer Stimme vermeldete: »Durchlauchtigste Majestät, wenn Ihr geruhen wollt, Euren Blick auf diesen Knaben zu lenken: Es ist der Nabellose, die bewusste Kreatur.«
Der Kaiser ließ die Serviette sinken, mit der er sich eben den Mund abgetupft hatte, und seine gichtknotige Hand bedeutete ihnen, Flor näher heranzuführen. D’Alembert wollte den Nabellosen packen, doch der verkroch sich wieder mit leisem Wimmern hinter Markétas ausladendem Kleid.
»Ruhig, Flor, dir wird nichts Arges geschehen.« Sie nahm ihn bei der Hand, wie ihn die alte Steinerin bei der Hand geführt hatte, mit vier, elf und noch mit siebzehn Jahren. So ging sie langsam an der Tafel entlang, Johanna von Waldsteins Blick ignorierend und den Blick ihres Geliebten entbehrend, der unverwandt nur die väterliche Majestät ansah.
Zwei Schritte vor Rudolf sank sie auf die Knie und zog Flor mit sich herunter. Der Kaiser sah sie aufmerksam an, sein fein geschnittenes Gesicht war ein grämlich erschlafftes Urbild der Züge seines Sohnes. Wie gut sie auf einmal Julius’ Zorn gegen jene verstand, die ihm die Sukzession verwehren wollten, er war ja ganz und gar die väterliche Majestät, nur jünger, entschlossener, stärker.
Noch immer schweigend richtete Rudolf seinen Blick auf Flor. Offenbar wagte niemand im Saal auch nur eine Silbe zu wispern, solange der Kaiser nicht die Stimme erhob, dabei konnte Johanna am andern Ende der Tafel anscheinend kaum mehr an sich halten vor Empörung. Sie war in eine Art Nonnentracht gewandet, ein schwarzes Gewand mit ebenso schlichtem schwarzem Umhang, ihre Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, das schmale Gesicht unter der strengen weißen Haube eine Maske kalten Zorns.
»Der bewusste Knabe.« Rudolfs Stimme klang matt und dünn, so als hätte er stundenlang geschwiegen. »Nun, Wir werden sehen. - Verwahrt ihn an einem sicheren Ort, Don Julius«, wandte er sich an seinen Sohn, der ihn mit automatenhafter Starre ansah, sein Gesicht so bleich wie mit Mondstaub gepudert. »Nachher wird uns der Magister die Prozedur erklären.« Wieder griff er nach seiner Serviette.
»Nun wünschen wir zu speisen.«