Julius erhob sich. Mit der Miene eines Kindes, das jedes elterliche Gebot peinlich zu erfüllen trachtet, trat er zu Flor und packte ihn so gewaltsam beim Arm, dass sich der Nabellose unter leisem Wimmern empor- und davonziehen ließ.
»Und sie dort«, ließ sich die väterliche Majestät vernehmen, »sagt an, Maître, wer ist das frische Kind?«
Er deutete mit seinem silbernen Tafelmesser auf Markéta, die sich halb abgewandt hatte, um mit den Blicken Julius zu folgen, der soeben Flor seinen Gardisten übergab. Als sie sich wieder umdrehte, setzte der Maître gerade zu einer Antwort an, doch zu verstehen war nichts, denn im gleichen Moment begann Johanna von Waldstein lauthals zu singen:
»Jetzt scheint die Welt dem neuen Sinn Erst wie ein Vaterland, Ein neues Leben nimmt man hin, Entzückt aus seiner Hand!«
Und während der sich sträubende Flor von Mular und Mikesch aus dem Saal gezerrt wurde und Don Julius an seinen Platz zurückkehrte, mit mehlbleichem Antlitz, automatenhaften Bewegungen und noch immer ohne einen Blick für Markéta, traten hinter einem Vorhang im Rücken der Waldstein alle zwölf Nonnen ihrer geistlichen Salvaguardia hervor und stimmten mit schallendem Sopran in die Lobpreisung himmlischer Güte und Seligkeit ein:
»Hinunter in das tiefe Meer Versank des Todes Graun, Und jeder kann nun leicht und hehr In seine Zukunft schaun!
Der dunkle Weg, den er betrat, Geht in den Himmel aus, Und wer nur hört auf seinen Rat, Kommt auch in Vaters Haus!«
D’Alembert berührte Markéta am Arm und beugte sich ihrem Ohr entgegen: »Das gilt Euch, Madame, eilt hinaus, vite, vite -bevor der kaiserliche Zorn entbrennt!«
Benommen stand sie auf und ließ sich von ihm zur Tür ziehen. Als sie noch einmal über die Schulter zurücksah, löffelten alle am Tisch Versammelten ihre dampfende Schildkrötensuppe, während die Nonnen, hinter der Tafel aufgereiht, weiter ihren Lobpreis schmetterten und dabei rhythmisch die schwarzen Kruzifixe gen Himmel schwenkten:
»Nun weint auch keiner mehr allhie, Wenn eins die Augen schließt, Vom Wiedersehn, spät oder früh, Wird dieser Schmerz versüßt!«
63
»Diesen Homunkel hat sich Hezilow in Basel geschaffen, Euer Käjserliche Majestät, im Jahre finfzehnnäjn’nachtzig.« Geflissentlich zum Kaiser hinbuckelnd, der inmitten des Labors auf einem weinroten Samtfauteuil thronte, wies der Puppenmacher mit seinem Stock auf Flors entblößten Leib. »Halten zu Gnaden - ist sich die Kreatur ohne Nabel, von käjnem Mitterchen geboren.« Und er stieß Flor mit dem Ellbogen an, worauf der Nabellose in schaukelnde Bewegung geriet.
Die bedauernswerte Kreatur war mit den Handgelenken an eine Kette gefesselt, die inmitten des Alchimistengewölbes von der Decke herabhing, zwei Schritte vor dem Sessel des Kaisers. Mit aufmerksamer Miene sah die Majestät von Hezilow zum Nabellosen, dessen Augen geschlossen waren, der Kopf zwischen den emporgereckten Armen vornüber gesunken.
»Wenn Euer Herrlichkäjt sich ieberzäjgen mecht - alles echt, alles echt.« Mit seinem Stock pikte Hezilow wahllos in die Haut des Geschaffenen, an Bauch, Armen, Schenkel, worauf sich die malträtierten Stellen in natürlicher Weise röteten.
»Nach glicklicher Erschaffung hauste sich Kreatura drei Jährchen lang in Hezilows Baseler Labor.« Der Puppenmacher fletschte die Zähne. »Sodann schien’s vonneeten, den Homunkel bei Schweizer Edelmann einzulogieren, namens Veit von der Miehlen, auf dass unser Rolfie wie ein Christenmensch aufgezogen ward.«
Noch immer schaukelte der Gehängte an der leise quietschenden Kette hin und her, einen Fußbreit über dem Boden schwebend. Drei Schritte hinter ihm fauchte das glühende Doppel-Ei des alchimistischen Ofens, vor dem sich zwei von Hezilows Gesellen mit dem Blasebalg mühten. Auf Tischen und Schemeln vor dem Athanor standen wiederum Tiegel, Pelikan und Kupferbecken bereit für die Goldprobe, der sich der Puppenmacher sogleich unterziehen würde. Doch vorher gedachte er offenbar noch ein Schauspiel aufzuführen, um den wundergläubigen Kaiser günstig zu stimmen.
Ich habe ihn unterschätzt, dachte d’Alembert, der zur Linken neben dem Kaiser stand, in wirrem Wechsel von Frostschauern und Schweißkaskaden geplagt. Auch Hezilow unterschätzt, dachte er, wie vorher schon Madame Markéta - gerade jetzt, da die Bestien zum Sprung ansetzen, zerrinnen meine Kräfte.
»Wenn er und seine Briederchen nichts von unserm Herrn Heiland wissten, o allerstrahlendste Gnaden, wie kennten sie schließlich Christenheit retten in firchterlicher Schlacht gegen Krummsäbel Mohammeds?«
In den Augenwinkeln sah d’Alembert, dass der Kaiser mehrmals nickte, so heftig, dass sein dunkel bebartetes Kinn einwärts schnellte. Natürlich, dachte Charles, hatte Hezilow ihnen damals dreist ins Gesicht gelogen, als er sich brüstete, als »käjserlicher Puppenmacher zu Prag« gewirkt zu haben. Dennoch schien er mit gewissen Vorlieben Rudolfs vertraut zu sein und entschlossen, sich diese kaiserliche Schwäche zunutze zu machen. In einem Seitenflügel des Hradschin, zu dem nur Rudolf selbst, einige Künstler und sein Kammerdiener Robert Zutritt besaßen, waren über die Jahre hinweg verschiedene unglückselige Personen eingekerkert gewesen, kakaohäutige Wilde aus Neuspanien, an Köpfen und Hüften zusammengewachsene Zwillinge oder auch der zu schauriger Berühmtheit gelangte Fellmann mit seiner gleichfalls am ganzen Leib bepelzten Gemahlin. Offiziell hielten sich all diese Personen aus freien Stücken im Hradschin auf, als kaiserliche Gäste, um sich von Rudolfs Malern und Skulpteuren in Öl oder Marmor verewigen zu lassen. Aber mehr als einmal hatte d’Alembert munkeln hören, dass Rudolf ein besonderes Vergnügen daran finde, die eingekerkerten »kuriosen Geschöpfe« durch Gucklöcher in den Wänden bei den heikelsten Verrichtungen zu observieren.
Der Maître beugte sich ein wenig vor, wobei er gegen jähes Schwindelgefühl ankämpfen musste. An Rudolf vorbei spähte er zu Don Julius, der zur Rechten des Thronsessels an einer Säule lehnte. Seit die väterliche Majestät in der Burg eingetroffen war, schien der Bastardsohn von einer Starre befallen, die Geist, Körper und Seele gleichermaßen lähmte. Sein Gesicht war noch immer bleich und wirkte eingefroren, seine Bewegungen abgehackt wie die Gebärden der »menschlichen Apparate«, von denen Medikus von Rosert so gerne schwadronierte.
Nun machte Hezilow mit seinem Stöckchen ein Zeichen zur Gewölbedecke hin, und augenblicklich begann sich dort oben unter lautem Quietschen und Stöhnen ein Mechanismus zu regen. Ruckweise wurde die Kette emporgezogen, und mit ihr schaukelte der bleiche Leib des Geschaffenen, dabei sacht um die eigene Achse kreiselnd, zur Decke hinauf.
Hezilows Gehilfen hatten buchstäblich Hunderte Fackeln und Kerzen angezündet, die auf Tischen, Hockern und in Wandnischen brannten, dennoch reichte ihr Licht kaum bis über die Köpfe der Stehenden hinauf. Gemächlich, unter fortwährendem Stöhnen des rostigen Apparates, verschwand der Geschaffene in der Dunkelheit über ihnen, erst die himmelwärts gereckten Arme, der vornüber gesunkene Kopf mit den verworrenen Goldlocken, dann die schmalen Schultern, die Brust, der nabellose Bauch. Endlich schaukelten nur seine rußgeschwärzten Füße noch an der äußersten Lichtgrenze hin und her, dann wurden auch sie von Finsternis verschlungen, und das Winseln der Winde erstarb.
»Wird sich Magister Hezilow kiebelweise Gold für die Majestät erschaffen«, sprach der Russe, neuerlich zum Kaisersessel hinbuckelnd, »Gold, Gold, so viel Euer Herrlichkeit nur winschen kännen. Und zur gläjchen Zäjt, Euer Gnaden, meege sich das tiefste alchymische Mysterium vor Euern herrlichen Augen entrollen.« Er hob seinen Stock und machte eine rasche, komplizierte Bewegung, als schreibe er eine verschnörkelte Chiffre in die Luft. »Das Mysterium der alchymischen Vermählung!«
Noch während er die Formel mit pfeifender Stimme ausrief, traten zwei seiner Gesellen, Fackeln in den Händen, aus der Dunkelheit hinter dem Athanor. Weitere Lumpenkerle folgten, zwei trugen eine schwarze, längliche Holzkiste, zwei weitere einen Kasten von ähnlicher Form, der jedoch gleißte und funkelte wie schieres Gold.