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»Zum Sofa, Pavel«, ordnete er mit dünner Stimme an, »mir zittern die Knie.«

Leise ächzend schleppte der Sekretär ihn zum Hirschledermöbel, wo d’Alembert unter selbstvergessenem Seufzen in die Polster sank.

Noch immer flimmerte ihm der goldene Wirrwarr des Herbstlaubs vor Augen und vermischte sich mit den Bildern, die ihn in seinen Fieberträumen gepeinigt hatten.

Im Grunde fühlte er sich noch genauso ausgezehrt wie vor drei Wochen, als er zum ersten Mal versucht hatte, sein Krankenlager zu verlassen, um nach einem halben Dutzend Schritten umzukehren, zitternd vor Schwäche und Verzagtheit. Immerhin hatte sich das Fieber nun zurückgezogen, nach Art belagerter Invasoren, die sich im unzugänglichsten Wehrturm verschanzen.

Wenn ich ehrlich bin, dachte der Maître - und sich selbst gegenüber schwelgte er seit Wochen in Ekstasen der Ehrlichkeit -, erwarte ich nicht, dass sich dieser Eroberer noch einmal aus den Ruinen meiner Person verjagen lässt.

Man schrieb den 5. September 1607 A.D. einen Mittwoch -

fast drei Monate waren seit dem Besuch der väterlichen Majestät verflogen und verweht. Und noch immer schien ganz Krumau, Stadt und Burg, mit angehaltenem Atem darauf zu warten, dass der Kaiser sein Versprechen einlöste und Hezilow zum rytir z Imany, zum Ritter Böhmens, erheben ließ.

»Don Julius und der Herr Magister«, meldete Pavel von seinem Pult her, »rechnen nun für nächste Woche mit der fraglichen Nachricht aus Prag.«

In einem seiner hartnäckigen Fieberträume rollen Hezilows Kutschen über schwarzes, kahles Land, zwischen abgeernteten Äckern, blattlosen Bäumen dahin. Wann immer die Lumpenkerle auf einen einsamen Wanderer stoßen, beugt sich Unçerek - oder Oblion oder Täkie - aus der Tür, packt den Unseligen beim Kragen und reißt ihn bei kaum geminderter Geschwindigkeit in den schwarzen Kasten hinein. Der Kutscher lässt die Peitsche tanzen, in rasender Fahrt geht es weiter, zum Richtplatz vor dem Budweiser Tor, wo Jakob Schatz schon auf die Gesellen wartet, oder zum Rosenberger Kastell, dessen Gemäuer sich mehr und mehr mit Hezilows Jagdbeute füllen.

Tatsächlich aber verhielt sich der Puppenmacher seit drei Monaten so still wie die Katze vor dem Mauseloch. Das jedenfalls ging aus den Worten Markétas hervor, die den Maître in den Wochen seiner Krankheit regelmäßig aufgesucht, aufgemuntert und mit Heiltränken traktiert hatte. »Das Zögern der Majestät hemmt die alchimistische Magie, Euer Liebden«, mit solchen und ähnlichen Floskeln vertröste Hezilow ein ums andere Mal den jungen Grafen, der, außer sich vor Ungeduld und Kummer, vom Puppenmacher die versprochenen Teufelsstreiche einfordere: Gold in funkelnden Strömen und Kreaturen in blanker Schar.

Solange die Majestät und der Magister gleichermaßen zögerten, ihre Versprechungen einzulösen, konnte sich d’Alembert sogar halbwegs guten Gewissens gestatten, in Fieberträumen zu wimmern und in Ekstasen der Ehrlichkeit zu schwelgen. Aber in den letzten Wochen wäre er wohl auch dann auf seinem Krankenbett liegen geblieben, wenn Hezilows Tatendrang nicht durch ein taktisches Patt gehemmt worden wäre.

Dabei war ihm der Ausgang dieser blasphemischen Schachpartie keineswegs gleichgültig geworden, im Gegenteil. Allerdings hatte er seine Zuversicht, dass er selbst die weißen Figuren zum Sieg führen könnte, so weitgehend eingebüßt, dass er für jeden Tag dankbar war, um den sich der Fortgang des fatalen Spiels verzögerte.

Emsig schlitzte Pavel drüben am Stehpult Depeschen auf, die auch heute zu Dutzenden für den Obersthofmeister von Burg Krumau eingetroffen waren. Seine Miene verriet, wie sehr es den anhänglichen Alten erfreute, dass der Maître entschlossen schien, endlich wieder er selbst zu werden.

In einem seiner wiederkehrenden Fieberträume schwimmt d’Alembert in einem See umher, und auf einmal bemerkt er, dass das Wasser vor winzig kleinen Menschlein wimmelt. Er fährt zusammen, da erschauert die ganze weite Seefläche, und plötzlich schwimmen sie von allen Seiten auf ihn zu. Der gesamte See, so weit sein Auge reicht, schimmert und schäumt von den eifrigen Bewegungen der daumenkleinen Leiber, die ihm von überallher entgegenschnellen, selbst aus der trüben Tiefe des Wassers stieben sie zu ihm empor. Verzweifelt versucht er sich ans Ufer zu retten, doch im nächsten Moment ist er von Kopf bis Fuß mit funkelnden Homunkeln bedeckt, einer wimmelnden Kruste mit hunderttausend Händchen und Mündlein, die ihn zwicken und beißen und zwacken und kneifen, jeden einzelnen Zoll seiner Haut.

D’Alembert sah zu Pavel hinüber, und aufs Neue vermischte sich der Blätterwirbel vor dem Fenster mit dem Gewimmel im schaumigen See seines Fiebertraums.

Nach wie vor schien es ihm zweifelhaft, dass der Magister tatsächlich die Natur bezwingen, dass er Gold aus Blei oder gar lebendige Kreaturen aus Dampf und Dreck erschaffen konnte. Aber dem Puppenmacher war etwas ungleich Bedeutenderes gelungen - er hatte ihren Geist bezwungen, indem er das Bild der im gläsernen Becken wimmelnden Menschlein unauslöschlich in ihre Seelen geprägt hatte.

Und vielleicht, dachte d’Alembert, ist dies sogar die innerste Ursache des Fiebers, das mich verzehren wilclass="underline" das unerträgliche Wissen, von meinem Widersacher auf eigenem Terrain geschlagen zu sein.

»Lass die Briefe, Pavel«, sagte er, »erst will ich Breuner aufsuchen. Wie geht es ihm?«

Der Sekretär erstarrte, über sein Stehpult gebeugt. »Der Haushofmeister ist ins Paradies gefahren, vor vier Wochen schon, Maître d’Alembert.«

Charles d’Alembert hatte den Tod niemals gefürchtet, allerdings auch nie herbeigesehnt oder gar nach christlicher Manier verherrlicht. Das katholische Kriechen vor der Majestät des Todes verabscheute er, ohne deshalb auch die Menschen zu verachten, die der tröstlichen Magie so dürftiger Lügen erlagen.

Gleich den großen Griechen, deren Weisheit und Lebenskunst er verehrte, würde er den Schierlingsbecher leeren, wenn seine Stunde gekommen wäre, ein würdevoller Abschied, bestimmt von stillem Gedenken, den er sich in vielen Einzelheiten schon oftmals ausgemalt hatte.

Wie die heiligen Weiber, mit denen Johanna von Waldstein sich seit einiger Zeit umgab, oder wie der finstere Pater Miguel, der während seiner Krankheit hier in Krumau eingetroffen war, glaubte auch d’Alembert an ein Jenseits, in dem sich die Seelen der Verstorbenen aufhielten. Allerdings hatte er sich niemals zu dem Wahn bereden lassen, dass es sich nach dem Dahinscheiden des Leibes seliger leben ließe. Wie schon Plato oder Euripides wussten, war das Jenseits »eine kalte Geisterwelt, wo frierend Schatten sich an Schatten drängt und find’t doch keinen Hauch von Zärtlichkeit, von Leidenschaft und Leibeswärme«.

Fröstelnd stand d’Alembert vor dem Grab seines alten Gefährten von Breuner, am Rand des Rosenberger Gottesackers, der sinnigerweise hinter dem gräflichen Irrgarten lag. Der wackere Haushofmeister hatte ein halbes Leben in Don Julius’ Diensten verbracht, ebenso wie er selbst, und plötzlich spürte Charles mit überwältigender Gewissheit, dass er dem Freund bald schon nachfolgen würde.

In dünnen Strähnen rann der Regen herab. Törichter Aberglaube, dachte d’Alembert. Auf dem schwarzen Hügel verwelkte ein halbes Hundert Asphodelen, der Engel auf dem Grabstein deutete grimmig himmelwärts.

»Er ruhe in Frieden«, sagte Pater Miguel, »Gott im Himmel sei seiner armen Seele gnädig. Amen.«

»Amen«, wiederholte Markéta, die neben dem Maître am Grab stand, die Hände fromm gefaltet, doch d’Alembert sah schweigend zu Pater Miguel auf.

»Kommt recht bald einmal zur Beichte, mein Sohn«, sagte der Geistliche, indem er, die schwarzen Augenbrauen zusammengezogen, mit brütendem Blick auf ihn heruntersah. »Kommt am besten schon heute, um Eurer Seligkeit willen.«