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Einen Moment lang hielt d’Alembert dem Blick des so wenig barmherzig wirkenden Paters noch stand, dann sah er auf seine Füße hinab, die zum ersten Mal seit Monaten wieder in Schnabelschuhen steckten. Diese gnadenlos frommen Priester, dachte er, holen sie geradewegs aus Spanien, von Ihrer Allerkatholischsten Majestät. Obwohl er seinen mit Schneenerzen gefütterten Winterumhang übergeworfen hatte, fror er am ganzen Leib, ein klapperndes Bündel aus Nässe, Kälte, Schwäche, dessen innerster Kern still verglühte.

»Nennt mich nicht Sohn, denn mein Vater seid Ihr nicht«, sagte der Maître endlich, und dann fuhr er zusammen, da Markéta zu seiner Rechten einen seltsamen, gepressten Laut ausgestoßen hatte, halb Lachen und halb Schluchzer.

Der Geistliche machte einen Schritt auf ihn zu. Seine bullige Gestalt und das düstere Antlitz mit den bläulichen Bartschatten wirkten mit einem Mal so bedrohlich, dass d’Alembert ernstlich Angst bekam.

»Eure Seele ist verhärtet und verstockt, Senor d’Alembert«, sagte Pater Miguel. »Büßt und betet, ehe es zu spät ist und Gott Euch auf ewig verdammt.«

D’Alembert verbeugte sich flüchtig in Richtung des Grabes und trat den Rückweg an. Dass er den Tod nicht fürchtete, hieß noch lange nicht, dass er sein Leben bereitwillig von sich werfen würde.

Dankbar nahm er hin, dass Markéta ihren Arm unter seinen Ellbogen schob und ihn stützte, während sie auf durchweichten Wegen am Irrgarten vorbeigingen, um den Schwanensee herum und in sanftem Gefälle wieder zur Burg hinab. Unablässig fiel Regen in lotrechten Schnüren, selbst das Laub sank so schwer von den Bäumen, als wären es Blätter aus gehämmertem Blei.

Hinter ihnen lief der spanische Pater, mit dröhnenden Schritten und unverwandt Gebete murmelnd. Nach dem Bader Pichler und dem alten Scharfrichter hatte also auch Pater Hasek seinen Posten räumen müssen, dachte d’Alembert. Wie mochte Julius dieses Schelmenstück gelungen sein? Geistliche konnten allein von ihrem Bischof eingesetzt oder abberufen werden, und wenn sich der Erzbischof von Prag auf diesen Handel eingelassen hatte, dann musste er eine beträchtliche Gegenleistung erhalten oder sich mächtigem Druck gebeugt haben.

Meistens war es d’Alembert gelungen, rechtzeitig aus jenem Fiebertraum zu erwachen, aber ein paar schreckliche Male hatte er in die winzigen Gesichter der tausend schwimmenden Menschlein sehen müssen, die allesamt Fabrios Züge trugen. Seine kohleschwarzen Augen, die scharf geschnittene Nase, der lächelnde Brombeermund - das geliebte, nie geküsste Antlitz, zu hunderttausend Fischgesichtern zugleich vervielfacht und eingeschrumpft.

Gewaltsam riss er sich aus dem Traumsee heraus. Von Breuner hatte sich in die Obhut des gräflichen Medikus begeben, während er selbst sich geweigert hatte, sein persönliches Schlafgemach gegen den Hospizsaal am untersten Burghof zu vertauschen. Auf seinen Befehl hin hatte Pavel die Medizin regelmäßig weggeschüttet, die Kasimir ihm schicken ließ, und ihm stattdessen das Spezifikum eingeträufelt, das Markéta ihm eines Tages mitgebracht hatte, mit den besten Genesungswünschen von Sigmund Pichler.

Bin ich nur deshalb immerhin noch am Leben, mon vieil ami, während du sechs Fuß tief vergraben liegst? Und konntet Ihr oder der Bader die Leiche beschauen, Madame? Hat der Körper des armen von Breuner wie damals der Leichnam des falschen Homunkel ausgesehen: kochendrot, gedunsen, aufgeplatzt? Er wagte es nicht zu fragen, kaum mehr des finsteren Paters wegen, der sie im obersten Burghof verlassen hatte, sondern aus Angst, dass Markéta seine Fragen bejahen würde.

»Ihr glaubt gar nicht, wie froh ich bin, Euch wieder auf den Beinen zu sehn, Maître«, sagte sie nun. »Wenn ich mich rasch mit Euch bereden könnt? Nur auf ein paar Worte, die Angelegenheit drängt.«

»Und mich drängt es zurück auf mein Lager, verzeiht, Madame«, sagte er mit Mühe. Das ungewohnte Treppensteigen nahm ihm den Atem. »In zwei Stunden werde ich Euch gerne in meinem Salon empfangen.«

»Dann um Glockenschlag drei, Maître, ich bin sehr in Sorge -nicht mehr um Euch, Gott sei Dank, aber ...«

Sie schlug sich die flache Hand vor den Mund. Für einen Moment sah d’Alembert in ihre grünen Augen, die vor Tränen glitzerten, dann wandte sie sich ab und lief in Richtung der Frauengemächer davon.

66

»Hezilow glaubt, dass die kaiserliche Urkunde immer noch nicht eingetroffen wär«, sagte Markéta, »heut früh erst hab ich selbst gehört, wie Julius ihm gegenüber ganz empört getan hat. >Gleich schick ich einen Botenc, hat er ausgerufen, >keine Bange, Magister, in drei Tagen allerärgstens seid Ihr Ritter von Böhmen. < Und dabei ist vorgestern schon ein Bote mit dem Dokument gekommen«, fuhr sie fort.

»Die Gardisten haben ihn abgefangen und Julius die kaiserliche Schatulle übergeben, Maître, ich hab’s mit eigenen Augen gesehn.«

»Und der Kurier?«, fragte d’Alembert, der sich mit offenbarer Mühe auf seinem Sofa aufrecht hielt.

Fast bereute sie’s schon wieder, ihn mit so erschreckenden Neuigkeiten zu behelligen, aber es ging nicht anders. Zumindest würde sie ihm das Grässliche so schonend wie irgend möglich beibringen. »Der Bote ist im Turm«, sagte sie.

»Beim Sternengucker?«

»Gott bewahre, Monsieur! Von Sargenfalt - na ja ...«

»Sein Geist ist immer noch verwirrt?«

Ein Schauder überlief sie. »Seine Seele«, sagte sie leise, »ich glaub, sie ist bis heute nicht von dort zurückgekehrt, aus der Nebelwelt.«

»Und der Bote also? Nun sprecht doch, Madame!« Er machte Anstalten, sich aus den tiefen Polstern seines Sofas hervorzuarbeiten.

»Bitte bleibt sitzen, Maître, Ihr müsst Euch schonen. Nicht, dass Ihr einen Rückfall erleidet, schon der Gang zum Gottesacker war anstrengender, als Euch in Euerm Zustand gut tun kann.«

»Hört mich an, Markéta.« D’Alembert ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. Neben ihm lag das weiße Stöckchen, und Markéta ertappte sich bei dem Wunsch, dass er es in die Hand nehmen und wie in besseren Zeiten durch die Luft wirbeln möge. »Es ehrt Euch sehr, dass Ihr mich schonen wollt, aber wie Ihr selbst vorhin bemerktet: Für derlei bleibt uns keine Zeit. Also sprecht ohne Umschweife, wie sie vor einem Narren oder Knaben angezeigt wären.«

Sie errötete ein wenig und ging mit einer Handbewegung darüber hinweg. »Verzeiht, Maître. Der kaiserliche Bote sitzt im Hungerturm, im selben Käfig, in den Julius damals Flor einsperren ließ. Die Schatulle enthielt einen Brief mit gewaltigem Löwensiegel, ich selbst war dabei, als Julius es aufbrach, die Urkunde überflog und mit einem Fluch zu Boden warf.«

»Der Ritterschlag«, murmelte d’Alembert. »Und warum, glaubt Ihr, freut’s ihn nicht, dass der Magister nun ungesäumt ans Werk muss?«

Markéta war ans Fenster getreten, für einen Moment sah sie still auf die Stadt hinab. Grau schäumte die Moldau durch ihr gewundenes Flussbett, winzig wie ein Rinnsal aus dieser Höhe. Eine Schar plumper schwarzer Vögel flog über die Dächer hinweg, und erschauernd dachte sie daran, was Flor ihr unlängst von jenem »alten Drachen« in Hezilows Halle berichtet hatte.

»Der Kaiser vermacht Hezilow ein Rittergut vor den Toren Prags«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzuwenden. »Er lädt den Puppenmacher mit herzlichen Worten ein, sein Werk dort zu vollenden, besser noch in den Laboren der kaiserlichalchimistischen Akademie zu Prag.«

Der abgemagerte Mann in ihrem Rücken atmete tief ein und wieder aus. Als Markéta sich zu ihm umdrehte, sah sie eben noch den Schrecken in seinem Gesicht, das gleich darauf wieder undurchdringlich wurde.

»Damit hat natürlich jeder gerechnet«, sagte er, »ausgenommen Julius, der die väterliche Majestät für einen edlen Ritter hält.«

»Aber es ist Betrug!«, ereiferte sie sich. »Ohne Julius hätt Hezilow überhaupt nichts erreichen können, und zum Dank zieht sein Vater den Magister nach Prag?«