»Was geht hier vor?«, fragte sie die Gardisten, erfüllt von einer Ahnung, die eher schon Gewissheit war. »Warum bewacht ihr diese Tür?«
Einer der Soldaten war Franz Brodner, den sie einst drunten am Moldauufer geküsst hatte - vor vielen Jahren, vor einem halben Leben. Wie eine Ritterrüstung stand der blonde Franz neben dem Türpfosten und schielte unbehaglich von ihr zu seinem Vater, dem stämmigen Wirt, der nun anstelle des Sohnes das Wort ergriff: »Das fragst du - Ihr, Madame?« Das pralle Gesicht mit dem traurig hängenden Schnauzbart rötete sich vor Zorn. »Unsre Kinder sind dort drinnen, und er verwehrt uns, sie zu sehen!« Anklagend deutete er auf seinen Sohn Franz, der mit starrem Blick durch sie hindurchzusehen schien.
»Den kleinen Silvan, seinen eignen Bruder! Weil angeblich die Pest in Krumau ausgebrochen ist! Was ratet Ihr uns, Madame, wem sollen wir glauben - dem gräflichen Medikus oder diesem Mann, der das Geschwätz von der Pestilenz für blanken Unfug hält?«
Hinter dem breiten Rücken des Flößers Tomas trat eine bauchige Gestalt hervor, bei deren Anblick sich Markétas Herz zusammenkrampfte.
»Vater Sigmund!« Sie wunderte sich über die Freude, die sie bei seinem Anblick empfand. Wir müssen reden, dachte sie, endlich miteinander reden. »Ich selbst bin keine Heilerin, obwohl ich im Baderhaus manches gelernt hab«, sagte sie mit erhobener Stimme, dabei unverwandt in das runde Gesicht mit dem gewaltigen Schnauzbart schauend. »Aber Medikus von Rosert wird gewiss nichts dagegen haben, wenn ein so erfahrener Heiler wie Sigmund Pichler einen Blick in sein Hospiz wirft? Wenn die Leute dort oben tatsächlich an der Pest erkrankt sind, wird der gräfliche Medikus sowieso kundigen Beistand brauchen.«
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als über ihren Köpfen ein Fenster aufflog und der klatschmohnrote Kopf des Medikus zu ihnen herunterschrie: »Für solchen Beistand dank ich verbindlichst! Da wüsst ich ja kaum zu sagen, was ich ärger fürchten sollte - die Pestilenzia, die ich in Prag und Budweis dreifach besiegt hab, oder die Hilfe eines versoffenen Quacksalbers, dessen Privilegium einst als Wickelpapier fürs Kuckucksei diente!«
Das Blut schoss Markéta in die Wangen. Immer noch sah sie dem Bader ins Gesicht, das unter den Hohnworten Roserts fahl geworden war.
Unterdessen waren zehn Soldaten vom Tor herbeigelaufen und hatten die kleine Gruppe umringt. »Genug jetzt, Leute«, sagte Jan Mular in selbstzufriedenem Tonfall, »vor Euch steht der Gardekommandant von Krumau.« Heiter sah er von einem zum andern, die Daumen in seinen Gürtel unter dem schwammigen Bäuchlein eingehängt. »Die Stadttore sind verrammelt, bewahrt Anstand und Ruhe, befolgt die Anweisungen der Obrigkeit, dann ist der Spuk bald vorbei.«
Was ihn selbst betraf, dachte Markéta, mochte die Pest wohl getrost eine Weile wüten, solange ihre Wogen ihn nur weiter nach oben trugen. Die Striemen auf seiner Wange waren längst verheilt, aber Mular hasste sie noch immer und sann weiterhin auf Rache, das erkannte sie an jeder seiner Bewegungen, ja selbst an der verdrucksten Art, wie er ihrem Blick auswich.
»Geht jetzt nach Hause, Leute. Damit die Seuche sich nicht weiter ausbreitet, dürfen nur noch der Medikus und seine Gehilfen ins Hospiz.« Jan Mular zog seine Daumen aus dem Gürtel und machte wedelnde Bewegungen zum Burgtor hinab.
»Seine Gehilfen«, wiederholte Vater Sigmund, »wer ist damit gemeint?«
»Redest du mit mir, Bader?« Obwohl einen halben Kopf kleiner als Pichler, brachte er das Kunststück fertig, auf Vater Sigmund hinabzusehen. »Mich nennst du gefälligst Herr Kommandant, oder du wirst mich kennen lernen.«
»Oh, keine Sorge, Euch kenn ich schon - Euch und euresgleichen, Herr Kommandant.« Der Bader strich sich den Schnauzbart, seine Augen blitzten. »Aber seid doch so gutherzig, meine Frage zu beantworten, Herr Kommandant: Wer sind die Gehilfen des Herrn Medikus?«
Mular sah nicht den Bader, sondern Markéta an, während er in gewichtigem Tonfall antwortete: »Drei russische Heiler, Täkie, Fondor und Oblion mit Namen, außerdem ein ganzes Dutzend heiliger Frauen. Und nun scher er sich vom Burghof, Bader!«
70
Er lag noch mit sich selbst im Streit, ob er richtig gehandelt hatte, im Grunde war es ja seine erste selbstherrliche Entscheidung überhaupt gewesen. Und dabei war doch er der Herr! Ich, ich, dachte Julius, niemand anders. Schon gar nicht d’Alembert.
Im Hochgefühl seiner Herrschermacht hatte er sogar auf dem Thronsessel Platz genommen, im ganz und gar verspiegelten Audienzsaal, zum zweiten Mal erst, seit ihn die väterliche Majestät zum Herrn von Krumau erhoben hatte. Mein kaiserlicher Vater! Er knirschte mit den Zähnen, dutzendfach zuckte seine Unterlippe in den Spiegeln. Aber als Kaiser darf er ja gar nicht anders handeln, sagte sich Julius dann, er muss doch das Wohl des Reiches über alles stellen, auch über die Rücksicht auf mich, seinen Sohn.
Doch heute hat mir der Himmel ein Zeichen gesandt, mir, Don Julius Caesar. Er seufzte vor Behagen. O nein, er hatte ganz und gar richtig entschieden: die Stadttore schließen, die Grenzen der Grafschaft durch Soldaten sichern, zum Wohl seiner Untertanen, zum Frommen des väterlichen Reichs und zur Beförderung des großen Werks.
Habt Ihr nicht mal behauptet, Johanna, dass der Herrscher im Himmel mich längst und auf ewiglich verdammt hätte? Aus Throneshöhe schielte er ins welke Frätzlein der Waldstein hinab. Und habt Ihr, cher monsieur, nicht immer beteuert, dass dieser gütige Gott nur eine katholische Wahnfigur wäre? Vergeblich suchte sein Blick nach d’Alembert, der um Dispens gebeten hatte, »fortwirkender Schwäche halber«. Und nun aber, cher maître? Wie deutet Ihr die Pestilenz, die Medikus von Rosert diagnostiziert hat - wie sonst, wenn nicht als Himmelswink, dass der alchimistische Magister sein großes Werk hier in Krumau vollbringen soll, an keinem andern Ort?
Um den Thron herum waren seine Getreuen versammelt: Magister Hezilow, der auf den Ritterschlag noch ein wenig würde warten müssen, das schwarze Stöckchen in der Rechten, das absonderlich lange Schwert über der Lumpenkutte umgeschnallt. Johanna von Waldstein, so bleich, als ob sie letzte Nacht schon wieder umhergespukt wäre, im Kreis ihrer heiligen Weiber, von denen mindestens drei für Kuttensack und Chorgesang zu jung und saftig waren. Der rundliche Oberststallmeister Skraliçek, der ihm gestern erst von seltsamen Geschehnissen im Rosenberger Kastell berichtet hatte. Schließlich Oberstkämmerer von Hasslach, den er wohl auch noch zum Haushofmeister ernennen sollte, nach dem Abgang des braven Breuner.
»Wo zum Henker bleibt der Medikus? Berti, schaff den Kerl herbei!« Eben wollte Julius nach der Messingglocke greifen, die neben seinem Sessel auf dem Thronsockel stand, als Kasimir von Rosert tomatenhäuptig in den Saal gestolpert kam.
»Bitte sehr um Nachsicht, Euer Exzellenz. Vor dem Hospiz gab’s einen kleinen Aufruhr, die Leute verlangten ihre Angehörigen zu sehen.« Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Verständliche Aufregung, zu Herzen gehender Kummer, Euer Liebden! Aber da hilft alles nichts: Um die Leute zu retten, müssen wir hart und gelassen bleiben. Räucherwerk und Isolation, diese Sprache fürchtet die Seuche, im schwülen Bad weichlicher Gefühle blüht sie auf.«
»Wohl gesprochen, Medikus«, pflichtete die Waldstein bei, die Julius nie aus eigenen Stücken zur Audienz geladen hätte, doch der Magister hatte sich für sie ins Zeug gelegt. »Aber seid Ihr sicher, dass Eure Maßnahmen ausreichen?«, fuhr Johanna fort. »Wollt Ihr die Kraft der Krankheit wirklich brechen, so dürft Ihr der Pestilenz nicht hinterhereilen, sondern müsst ihr mutig entgegentreten.«