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Alle stürzen herbei, Herren und Knechte, Männer, Weiber, Kinder, selbst ein Greis humpelt heran, am Arm seiner vom Alter tief gebückten Frau.

>Gott zum Gruß<, sagt Fondor, packt den Greis beim Hosenbund und wirft ihn in die Flammen.

>Habe die Ehre<, sagt Unçerek, schnappt die Alte bei den Röcken und schickt sie dem Greis hinterher.

>Und jetzt? <, fragt Fondor.

>Abendmahl<, sagt Unçerek, springt zu einer jungen Mutter und reißt ihr den Säugling vom Busen.

Obwohl solches behauptet wurde, glauben wir, werter Maître, nicht, dass Unçerek seine Zähne in die Wange des neugeborenen Mägdleins geschlagen hat. Achtet einmal auf sein schadhaftes Gebiss, und der Rumor verliert auch für Euch jede Glaubwürdigkeit.

Tatsache ist jedoch, dass sich die Kleine nicht wieder gefunden hat, und das, obwohl die Leute von Vargasz sich sputeten, jedes Begehr der beiden Herren zu erfüllen.

Binnen weniger Minuten sind die einzigen Einwohner herbeigeschafft, die sich durch das Schauspiel des im Schneetreiben himmelhoch lodernden Feuers nicht anlocken ließen.

Beißender Rauch, nach Bratenfleisch und schmorendem Knorpel stinkend, treibt den Leuten Tränen in die Augen, Tränen, die sich mit ihrer Wut, ihrem Kummer über den Verlust der beiden Geschwister vermischen.

Im Schein des Feuers untersucht Fondor Pjotr und Unçerek Dusa. Die Geschwister sträuben sich, versuchen zu fliehen, obwohl sie kaum einen Fetzen mehr am Leibe tragen.

Schimpfend laufen Unçerek und Fondor hinter ihnen her, Letzterer mit vollen Backen kauend, und die Mohnblüten schaukeln an ihren Hüten, was in dieser Nacht voll Schnee und Flammen ganz absonderlich aussieht.

Für kurze Zeit verschwinden alle vier hinter der Kutsche, sodass den Leuten von Vargasz die Sicht versperrt ist. Man vernimmt klatschende Schläge, hört Schreie, mehrfach ein Zischen wie von Schröpfeisen. Währenddessen sucht die junge Mutter ihr Kind, und die Männer von Vargasz machen einen lachhaften Versuch, den Brand zu löschen, indem sie eimerweise Schnee in die Flammen werfen.

Dann kommen die Geschwister und die beiden Heiler wieder zum Vorschein. Unçerek hält nun Pjotr im Nacken fest, während Fondor einen Arm um Dusas Hals gelegt hat. So führen sie die beiden, bei unvermindertem Schneetreiben, um die vier Rappen herum zur Kutschtür, heben die Pestilenzischen in die Kabine, schwingen sich ihrerseits auf den Wagen und fahren davon, nicht ohne sich nochmals in Richtung der Zurückbleibenden zu verneigen.

Im zerstampften Schnee finden sich nachher ein paar zarte Knochen, ein paar Mohnblütenblätter, ein paar erloschene Kohlestücke - Zeichen, die niemand in Vargasz zu deuten vermag. Alles in allem sind die Leute froh, so glimpflich davongekommen zu sein, und entschlossen, nie wieder Pestilenzische vor der Obrigkeit zu verbergen.«

Charles d’Alembert ließ den Rapport in seinen Schoß sinken, keineswegs sicher, ob er tatsächlich auf seinem Sofa saß oder nur träumte, hier zu sein. Zu seiner Linken Fabrio, vertrauensvoll an ihn geschmiegt. Dem Maître schien es ratsam, ihn nicht zu beachten, schon seines kränklichen Herzens halber, das unter der flachen Hand des Knaben wie rasend pochte.

»Da sich die Betten im gräflichen Hospiz am Pulverhaus schneller leeren als die Strohlager im Rosenberger Kastell, wurde obrigkeitlich angeordnet, wöchentlich zehn bis fünfzehn Pestilenzische vom Kastell in die Krumauer Burg zu verlagern, auf dass Medikus von Rosert ihnen die vorgeschriebene Kur angedeihen lasse.«

Auf dem Teppich zu seinen Füßen lag Lenka, auf Bauch und Brust ein Wirrwarr emporgeraffter Röcke, die Rehkitzbeinchen weit gespreizt.

»Um Übergriffen seitens aufrührerischer Bauern zu wehren, wurde des Weiteren dekretiert, dass der Kutschverkehr zwischen Kastell und Burg durch zweckmäßig bewaffnete Gardisten aus der Kompanie des Kommandanten Jan Mular zu flankieren sei.«

Immer wieder schielte er über die Blätter hinweg, konnte sich aber nicht überwinden, seinen Blick auf das Schattendreieck zwischen Lenkas Schenkeln zu fokussieren. Nicht, dass er allen Ernstes erwartet hätte, dort »ein Teufelchen hervorspitzen zu sehen«, wie Fabrio ihre abergläubische Angst in Worte gefasst hatte. Dennoch fürchtete er aus irgendwelchen Gründen, dass er die allerletzten Reste an Willensstärke und Geisteskraft einbüßen würde, wenn er sich Fabrios Lockrufen ergäbe.

Wenn er dagegen weiter und weiter in den Schreiben der Kundschafter las, würden die Syrakuser irgendwann wieder verschwinden, wie es schon mehrfach geschehen war in den ungezählten hinter ihm liegenden Tagen, ob es sich nun um mählich verblassende Erscheinungen handelte oder die beiden irgendwann ganz einfach die Geduld verloren. Schließlich war es für Lenka gewiss nicht weniger mühselig und entbehrungsreich, in jener Haltung vor ihm auf dem Teppich auszuharren, oder für Fabrio, an ihn geschmiegt zu sitzen und seinen Rumpf in Höhe des in grotesken Rhythmen holpernden Herzens zu tätscheln.

Vor den Fenstern rieselte wahrhaftig Schnee hernieder. Es erstaunte ihn, wie rasch die Zeit verging, während er doch nur hier auf dem Sofa gesessen und das immer gleiche Dutzend Rapporte durchflogen hatte.

Seltsamerweise entdeckte er immer wieder neue Berichte in dem Stapel, wenn er die Blätter nur sorgsam genug hin und her wendete. Und ebenso absonderlich war, dass Lenkas Bäuchlein, unverkennbar selbst unter dem Chaos der emporgerafften Röcke, zu einer kleinen Trommel angewachsen war. Während aber selbstverständlich und nach wie vor kein »Teufelchen aus ihrer Fotz gekrochen kam«, o ihr Götter, lasst es auch fürderhin nicht zu.

Wo immer Fabrio ihn anrührte, blieben ein paar winzige Bürschlein hocken, auch das war einigermaßen unbehaglich. Auf seiner Brust krochen schon einige Dutzend funkelnder Homunkel herum, lauter winzige, splitternackte Fabrios.

Das Feuer prasselte in seinem Kamin. Einige Momente lang kämpfte er gegen die Vorstellung an, dass er sich nur nach vorn von seinem Sofa rutschen lassen müsste, auf die Knie sinken und mit dem Gesicht vornüber sacken, sodass er mit Mund und Nase exakt in Lenkas Schattendreick fallen würde, dann wäre »der ganze Spuk vorbei«.

Er versuchte darüber Klarheit zu gewinnen, welcher Spuk und in welchem Sinn vorbei. Aber seine Gedanken verschwammen, und auf einmal war er wieder in jenem See - oder Kristallbecken - oder schwappend vollen Rittersaal -, und von allen Richtungen schnellten ihm winzige Fabrios entgegen, vom ungefähren Umfang seines Daumens und mit hunderttausend daumennagelkleinen Gesichtlein lächelnd.

Nur in ganz seltenen Augenblicken begriff Charles d’Alembert, dass er krank war, noch immer ernstlich krank. Dass er auf den Tod darniederliegen musste, auch wenn er der Vorstellung unterworfen war, auf seinem Sofa zu sitzen, vor dem prasselnden Kamin und Lenkas gespreizten Rehkitzbeinen. Dann wieder entglitt ihm dieses Bild seiner selbst, wie er sich auf seinem Lager hin und her warf, vor Fieber glühend, und stattdessen schien ihm nicht sein Leib oder seine Seele, sondern die ganze Welt um ihn herum sterbenskrank.

Wie sonst wäre es möglich, dass Hezilows Lumpenkerle übers Land fuhren, die gräflichen Untertanen nach Belieben einfingen und ihren teuflischen Spott mit ihnen trieben?

»Nachdem der Unmut unter den Bürgern von Krumau immer weiter angeschwollen ist, ungeachtet der Silberstücke, die Graf Julius unter die empörte Menge zu werfen befahl, oder der Peitschenhiebe, die Gardekommandant Mular den ärgsten Aufrührern zuteil werden ließ, wurde am heutigen Sonntag, dem 23. Dezember 1607 A.D. angeordnet, drei Gesandten des Krumauer Rats Zutritt zum Hospiz zu gewähren, auf dass sie sich deroselbst von der Zweckmäßigkeit der pestilenzischen Kur überzeugen. Die Namen der Gesandten lauten: Karel Kudaçek, Flößer; Sigmund Pichler, Bader; Stanislaus Brodner, Wirt zum >Goldenen Fass<.«

Die Löcher in seinem Gedächtnis, seinem Bewusstsein wurden immer größer, schwarz und unergründlich wie Moorseen. Er blieb auf seinem Sofa sitzen (sofern er nicht in seinem weißen Himmelbett lag), an seiner Seite Fabrio (oder auch nicht), vor ihm liegend Lenka (oder wohl eher nicht), jedenfalls wurde ihm schwindlig bei der bloßen Vorstellung, dass er sich erheben sollte, um beispielsweise bis dort drüben zu den Fenstern zu wandern: Wie viele Moorlöcher mochten auf diesem Weg lauern, versteckt zwischen seinen weißen Teppichen und Fauteuils?