Aber wie nun in diesem heiklen Fall? Wenn sie die Pestilenz in den nächsten Tagen erstickten, dachte er, wär es womöglich zu früh für Hezilow, der ihm eben erklärt hatte, dass er »den Aquaster tropfenweis aus den Spalten destillier«: Erhielte er ein Tröpflein zu wenig für seinen Pelikan, so wär das ganze magische Gewürge vergebens. Wütete die Seuche aber noch Woche um Woche weiter - und mit ihr Hezilows Gehilfen, deren Kutschenschlünde tagein, tagaus nach neuer Beute gierten -, so würden die Leut sich früher oder später gegen die Obrigkeit zusammenrotten, von Zorn und Verzweiflung aufgepeitscht.
Schon verlangte der Rat von Krumau, die Leichname beschauen zu dürfen, ehe man sie auf dem Pestfriedhof vor dem Budweiser Tor vergrub. Auf Anraten von Roserts hatte Julius sich diesem Begehr bisher verweigert: »Die sterblichen Hüllen sehen anders aus, als die Leut es bei Pestleichen gewohnt sind«
- der aquastrischen Prozedur halber, wie Julius vermutete, oder weil es sich um eine seltene Spielart der Pestilenz handelte; auch in diesem Punkt fragte er lieber nicht nach.
Um dem Gerede endlich die Spitze zu nehmen, hatte er gestern immerhin eingewilligt, das Hospiz am Pulverhaus durch drei Gesandte der Bürgerschaft inspizieren zu lassen. Aber seither war alles nur noch ärger geworden: Angeblich war einer der Gesandten nun verschwunden, was sollte das heißen, bitte sehr? Ein dicker Mann von einigen vierzig Jahren, so was rollte doch nicht einfach vom Burghof wie der Schachbauer vom Brett?
Auf einmal beschlich ihn eine Ahnung, er bückte sich nach der Glocke und schüttelte sie wild. »Berti! Her mit dir!«
Sein Kammerdiener stürzte in den Saal. »Exzellenz befehlen?«
»Wie heißt der Kerl - der Gesandte, den der Teufel geholt haben soll?«
Robert zupfte an seiner Weste herum, die sich straff überm Bäuchlein spannte. »Na, die Sache ist arg, Exzellenz. Madame Markéta läuft überall herum, wie ich hörte, auf der Suche nach ihrem ... Na, der Bader Pichler ist’s, Exzellenz.«
»Das hat uns grad noch gefehlt, Berti. Aber sag er: Nimmt sie’s schwer? Ich mein, es war ja bloß ihr Kuckucksvater, da könnt’s ihr doch gleich sein. Du schüttelst den Kopf? Hast wohl Recht, Berti: >An dir leid ich: sollst mein Vater sein.< Von wem stammt das goldene Wort?«
»Von Monsieur d’Alembert?«
Da bekam er einen Lachanfall und mitten hinein eine glanzvolle Idee. »Mais précisément, mon Camem-bert!« Er strahlte Robert an.
»Plaisir, c ’est mon desir, versteht er mich recht? Auch wenn d’Alembert so ausdauernd den Kranken spielt, dass ich mir in sieben Monaten vielleicht doch mal Sorgen um ihn machen sollte: Heut ist Weihnacht, Berti!« Er sprang von seinem Thronsessel auf und hüpfte auf einem Fuß die Stufen hinunter. »Und da soll gefeiert werden, im Großen Saal! Sieh zu, dass alle kommen - aber wirklich alle, alle, versteht er mich? Heut Abend, Schlag sieben, ich befehl’s!«
Der Kammerdiener eilte davon, während Julius langsamer nach links abging, in Richtung seiner Privatgemächer.
Durch das »Höllenbalg«, dachte er, das Lenka gestern zur Welt gebracht hat, ist nur noch mehr Unruhe geschürt, böses Blut im wahrsten Sinn vergossen worden - seltsamerweise im Salon d’Alemberts, prangend rote Flecken auf seinem Teppich hinterlassend, während der Maître selbst sich nebenan auf seinem Krankenlager wälzte. Dabei war Lenka froh und erleichtert gewesen, als Markéta, glücklicherweise im rechten Moment zur Stelle und als Hebamme leidlich erfahren, sie von der Totgeburt entbunden hatte. Ein versteintes, kläglich verschrumpftes, ja mumifiziertes Knäblein, mit schwärzlicher Affenfratze und dunkler Lederhaut am ganzen Leib.
Wie bei einer Fledermaus, dachte er, oder bei einem Drachen. Hezilow hatte heiß drum gebeten, ihm den Fötus zu vermachen. Aber nichts da, beschloss Julius, der Fratz gehört mir.
74
Seit Wochen schon spürte sie, wie er ihr mehr und mehr entglitt. Sie liebte ihn, zärtlicher denn je, tiefer, leidenschaftlicher, als sie jemals einen Menschen geliebt hatte. Und als sie je wieder lieben würde, denn auch das fühlte Markéta: eine Ahnung, ganz fern noch, von schrecklichem Schmerz.
Vorhin, als sie sich unter seinem Samthimmel umarmt hatten, war es ihr vorgekommen, als ob er etwas Ähnliches empfände, eine furchtbare Vorahnung, die seine Begierde nur noch heißer emporkochen ließ. Er war über sie hergefallen wie ein Raubtier, wie der junge Wolf, an den er sie schon damals erinnert hatte, als sie zum ersten Mal in seinem Thronsaal vor ihm stand.
Jene Momente elysischen Einsseins, die sie einige Male in seinen Armen empfunden hatte, schienen Markéta längst wieder so fern, dass sie sich zuweilen kaum mehr erinnern konnte, wie köstlich, wie paradiesisch es gewesen war, miteinander zu verschmelzen. Und vielleicht war jenes Einssein, wie sie nun dachte, sogar niemals ferner als in den Stunden seiner wölfischen Brunst.
Sie saß zu seiner Rechten, an der Stirnseite der Tafel im Großen Saal. Johanna und ihre Nonnen waren nicht erschienen oder nicht eingeladen worden, wie auch immer: Hauptsache, die Waldstein blieb ihr heut Abend erspart, ihr welker Anblick und die allzu scharfen Vogelaugen.
Weihnachtsabend: Seltsamer Gedanke, dass heute das Christkind für sie alle geboren worden war und niemand in diesem Saal, nicht eine einzige von zweihundertfünfzig Seelen, sich drum zu bekümmern schien. Auch ich nicht, dachte Markéta, auch meine Seele nicht. Wie fern die frommen Legenden von Pater Hasek, so fern wie der verjagte Priester selbst.
Zu Julius’ linker Seite saß tatsächlich Maître d’Alembert, hohläugig, mit mehlbleichem Antlitz und bis auf die Knochen ausgeglüht. Aus eigener Kraft hätte er sich schwerlich bis hierher schleppen können, sagte sich Markéta, aber Fabrio und Lenka hatten ihn fürsorglich gestützt. Mit rätselhafter Zärtlichkeit hingen die Zwillinge an dem Kranken, seit Lenka ihr versteinertes Knäblein in d’Alemberts Gemächern zur Welt gebracht hatte.
Alle Schranzen und Einbläser, Maler und Bildhauer, alle Schauspieler und Musiker, Schmarotzer und Schamlosen waren erschienen, sein gesamtes Gefolge, wie Julius es befohlen hatte. Jedenfalls diejenigen, die noch am Leben und bei leidlicher Gesundheit waren, denn über die Toten und die Siechen geboten weder Kaiser noch gar Graf.
Obwohl die Pestilenz hauptsächlich drunten in der Stadt und draußen in Weilern und Wäldern wütete, waren doch auch hier in der Burg viele Opfer zu beklagen. Nach Haushofmeister von Breuner waren vier Kuchelmägde, ein halbes Dutzend meist junger Lakaien und drei Hofbeamte dahingerafft worden. Außerdem der Maler da Biondo - sein Porträt des Grafen unvollendet - und fünf seiner Schüler, darunter Piero, der Bruder der kleinen Clarissa, die im Sommer vom Bären zerfleischt worden war.
Nicht zu vergessen den Hünen Robse und seinen Sohn Hielo, nicht zu vergessen den Sternengucker Sargenfalt, dessen Leib zwar immer noch unter ihnen weilte, doch seine Seele und sein Geist schienen auf immer in der Weite jener Nebelwelt verirrt.
Zu viele, dachte Markéta, viel zu viele Menschen, lieber Herr, die um Euretwillen hingehn mussten, auf diese oder jene Art.
Schon als sie Julius zum allerersten Mal gesehen hatte, bei seiner Ankunft hier in Krumau - als er vor ihr aus der Kutsche gesprungen war und sie in seine braunen Augen voller Schmerz und Selbsthass sah - als er sich über Melchior Kurusch gebeugt hatte, den Unseligen, der von der Kutsche seines Herolds überfahren worden war - schon damals hatte sie in jähem Schreck gespürt, dass etwas wie ein schwarzer Schleier ihn umgab. Tod, mein allerliebster Herr, so viele, die für Euch ihr Leben ließen.
Die Musiker begannen in die Tasten zu schlagen, auf die Trommeln zu hauen und in die Flöten zu blasen, und von Hasslach ließ an Delikatessen auffahren, was die pestilenzisch ausgezehrte Küche noch hergab.