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»Bitte, lieber Flor. Später! Ich kann jetzt wirklich nicht.«

»Da-dann: du-dunkel!«

Unten in der Stadt begannen die Glocken zu läuten, drei Herzschläge später fielen, mit dumpfem Dröhnen, die Glocken der Burgkirche ein.

»Weihnacht, Flor. Ich wünsch dir glückliche Weihnachten!« Plötzlich war ihr zum Heulen zumute. Sie riss sich von ihm los und zog den Schrank auf, dunkelrot leuchtete der Umhang zwischen ihren Kleidern hervor.

Vater Sigmund, dachte sie, wie konnte er nur so plötzlich verschwunden sein? In den Krankensaal hinein und nicht wieder heraus, wie war so was möglich? Zum hundertsten Mal führte sie sich den Hospizsaal vor Augen, während sie den weichen, duftenden Umhang aus dem Schrank nahm und über ihre Schultern warf. Die einzige Tür befand sich nahe der rechten Stirnwand, die Fenster vis-à-vis wiesen auf den schmalen Hinterhof und waren überdies vergittert. Und weitere Türen führten offenkundig nicht hinein und nicht hinaus! Sie war ja selbst dort oben gewesen und hatte den Krankensaal mit eignen Augen gesehen: zwei Dutzend Betten, sonst nichts! Wie konnte dort ein Mann wie der Bader verloren gehen, und dazu noch unter den Augen seiner Gefährten?

Auf einmal klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Wie konnte sie nur glauben, dass sie den Bader aufzuspüren vermochte, sie allein dort draußen in der Weihnachtsnacht? Wo wollte sie denn überhaupt nach ihm suchen? Etwa im Krankensaal? Aber dort hatten ja schon Karel Kudaçek und Stanis Brodner vergebens nach ihm geforscht! Oder sollte sie vielleicht versuchen, in Hezilows Gewölbe hinabzuschleichen? Die Beine wurden ihr weich, wenn sie’s sich auch nur von ferne vorstellte: der riesengroße Felsensaal, die Säulen und Schatten, fauchende Öfen und zischende Apparate, und dann Hezilows Lumpenkerle, die sich japsend und jauchzend auf sie stürzen würden, sowie das Gewölbetor hinter ihr zugefallen war!

Und doch muss ich gehen, dachte sie, um des Baders willen und um meiner selbst.

Während sie noch mit sich rang, zog Flor einen schwarzen Umhang aus ihrem Schrank, warf ihn sich über und nahm sie bei der Hand. »Mi-mit dir.«

Ihr erster Gedanke war, dass es viel zu gefährlich war, ihn mitzunehmen, aber stärker war die Erleichterung, die sie gleich darauf durchströmte: So bin ich zumindest nicht allein.

Dankbar lächelte sie Flor an und lief mit ihm hinaus in den wirbelnd weißen Weihnachtsabend.

Die Nacht gleißend vor Schnee. Die Luft ein Gestöber, darüber der blanke Glitzerhimmel, als ob der Schnee direkt von den Sternen fiele.

Die silbrigen Fähnchen ihrer Atemluft. Längst waren die Glocken verstummt. Von irgendwoher wehte Chorgesang der heiligen Weiber herbei, in den mit einem Mal eine Bassstimme einfieclass="underline" Pater Miguel.

Noch auf der Treppe hatte sich Flor eng an sie herangedrängt. Sie hatte es geduldet, obwohl sie die Blicke der Gardisten, oben vor den Frauengemächern, noch auf ihrem Rücken spürte. Umschlungen wie ein Liebespaar liefen sie durch die Burghöfe abwärts, wortlos, nur zuweilen leise Schreckenslaute ausstoßend, wenn sie auf dem glitschig abschüssigen Grund ins Rutschen gerieten.

Markéta hätte noch lange so laufen mögen, immerzu weiter an Flors Arm abwärts durch die Nacht voll tanzendem Schnee. Zwischen den freimütigen Fresken und Malereien hindurch, mit denen Graf Wilhelm seine Mauern hatte schmücken lassen, bis seine allerletzten Taler verteilt waren. Dann vorbei am riesenhohen Gewölbetor linkerhand, das verschlossen und verrammelt war, kein Wächter, kein Lumpenkerl davor.

Am unteren Ende des zweiten Burghofs blieb Flor auf einmal stehen, neben dem tintenfinsteren Durchhaus zum untersten Hof. »Wo-wollt wieder we-weg, und diesmaclass="underline" ne-nehmen mich mit.« Er flüsterte es, sein Mund dicht an ihrem linken Ohr.

»Später, mein lieber Flor.« Sie lehnte sich an ihn, froh, seine Wärme zu spüren. Schneeflocken tanzten auf sie herab, sanft schlossen seine Arme sich um sie. Jetzt spürte sie seine Lippen an ihrer Schläfe, warm, weich, ein wenig feucht.

Auch dich lieb ich, kleiner Flor, anders, ganz anders als ihn. Aber nicht weniger. So, wie man sich selbst vielleicht, das Rätsel tief im eignen Innern zärtlich liebt. Während er, Julius, für mich all das ist, was ich nicht bin, niemals sein werde.

Die Nonnen sangen noch immer, wie jubilierende Lerchen, und abermals fiel die dunkle Stimme des Priesters ein, brummend wie ein zorniger Bär.

Wieder hat er zu fliehen versucht, aus der Obhut der Steinerin, so stammelnd und wispernd Flor, wieder hat er sich aus dem Haus gestohlen und schleicht im Morgendämmer durch den Park. Das muss im letzten Frühsommer gewesen sein, er hat lang darüber nachgedacht, es ist die einzige Erklärung.

Wieder die Kerle, die im Verborgenen lauern, ihn zu Boden reißen, dass er rücklings im Gras vor ihnen liegt. Wieder Schläge, Tritte, ihre dreckigen Hände, die ihm Wams, Hemd, Hosen runterreißen. Und dann aber der Trichter, der Trichter, Markéta, das war vorher nie: dass er vor ihnen, unter ihnen liegt, einer rittlings auf ihm, ein zweiter zwängt ihm die Zähne auseinander und stößt ihm den Trichter ins Maul. Dann der grausige Trunk, Markéta, in seinen Schlund hinuntergurgelnd, dass er hustet und würgt und sich windet, aber es hilft nichts: Japsend und jauchzend flößen sie ihm den Schlangentrunk ein, bis er sich irgendwann nicht mehr wehren kann:

»Da-dann ... du-dunkel!«

Als er wieder zu sich kommt, hockt er am Ufer eines reißenden Flusses, in fremden bunten Lumpen. Gleich will er aufspringen, aufs Neue vor den Kerlen fliehen, die um ihn herum im Ufergras liegen. Und da packen sie ihn wieder, zwängen ihm abermals den widerlichen Trunk in den Hals. Während er würgt und spuckt, nimmt er sich die ganze Zeit vor: Sowie sie dich lassen, spring! Und der Trichter ist kaum heraus, Markéta, da schnellt, taumelt, rollt Flor in die Flut hinunter, die ihn gleich ergreift mit starken Armen und ihn mit sich reißt. Und dann wieder Dunkelheit, und als er neuerlich zu sich kommt, liegt er tropfnass im Uferkraut, vor dem Stadttor von Krumau, und die beiden Büttel schütteln und ohrfeigen ihn.

Heiß drückte seine Stirn sich an die ihre. »Mein armer lieber Flor.«

Seine Tränen, über ihre Wangen rinnend, seine Lippen auf ihrem Mund, er küsste sie und sie ließ es bereitwillig zu.

Doch dann auf einmal ein Rasseln und Rumpeln und Poltern in ihrem Rücken, sodass sie herumfuhr: Dort oben, am andern Ende des Burghofs, flog krachend das Gewölbetor auf.

»Weg, Flor, schnell!«

Im Nu tauchten sie ins Durchhaus. Das Herz klopfte ihr bis in die Schläfen, mit dem Rücken presste sie sich gegen die Wand des steilen Tunnels, in dem es wahrhaftig so dunkel war wie im Grab. Langsam rutschte sie an der Wand entlang zu Boden, bekam Flor am Umhang zu fassen und zog ihn mit sich hinab. Auf einmal war ihr schlecht vor Angst. Sie presste die Hände vor ihr Gesicht und hielt den Atem an, bis die Übelkeit wich. Dreißig Schritte mochte das Durchhaus in der Länge messen, in der Breite gerade so viel, dass Hezilows enorme Vierspänner hindurchpoltern konnten.

Da hörte sie schon das Malmen und Dröhnen, mit dem eine Kutsche aus der Kellerwelt emporgerissen wurde, das Schnauben der Rappen, das Rattern der Eisenräder auf Stein, dann unvermittelt viel leiser auf Schnee.

»Still, ganz still, lieber Flor.«

Sie wisperte dorthin, wo sie den Nabellosen vermutete, denn zu sehen war gar nichts, nicht mal ihre Hand zwei Zoll vor den eigenen Augen. Mit der Linken tastete sie nach Flor und fühlte den weichen Stoff des Umhangs, den er vorhin übergeworfen hatte, schwarz, glücklicherweise, doch selbst das Burgunderrot ihres Mantels wurde von der Finsternis verschluckt.

Wieder hielt sie den Atem an, dazu senkte sie den Kopf, damit die helle Scheibe ihres Gesichtes und der Glanz ihrer Augen sie nicht verrieten. Sie konnte nur hoffen, dass Flor ähnliche Vorkehrungen traf, doch er hatte ja offenbar ein halbes Leben damit verbracht, zu fliehen und sich zu verstecken, wenn auch mit magerem Erfolg.