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Die Kutsche donnerte in den Tunnel hinein und fuhr dröhnend und polternd, dabei unerwartet langsam vorbei. Endlos schienen die Rappen vorüberzuklappern, endlos der Kutscher schreiend die Peitsche zu schwingen, endlos den schwarzen Kasten hinter sich herreißend, dass die Räder dröhnten, die Bretter ächzten, die Achsen stöhnten. Zu sehen war überhaupt nichts, nicht mal ein Viereck von dunklerer Schwärze vor dem schwarzen Hintergrund des Tunnels. Aber die tosenden Geräusche und die Gerüche nach nassem Tierfell, Holz und Leder malten die Kutsche, jeden Zoll von den Nüstern der Rappen bis zum schlingernden Heck des Kastens, mit schmerzhafter Schärfe vor ihr auf die schwarze Leinwand dieser Weihnachtsnacht.

Dann endlich war die Kutsche vorbei, der höllische Lärm wurde zu einem Malmen und Murmeln, das sich zum unteren Burgtor hin entfernte und erstarb.

Sie tastete nach Flor. Fand seinen Umhang, auf den nassen Boden geknäult wie ein Lumpenbündel.

»Flor!« Noch immer wagte sie nur zu flüstern, dabei dröhnte ihr das Tosen der Hufe und Räder noch in den Ohren, sodass sie ihre eigenen Worte kaum verstand.

Wie rasend fuhren ihre Hände im Stockfinstern umher.

Nasser Stein, ein paar Brocken schmelzenden Schnees von seinen Schuhen. Sein Gewand, mit dem Rosenberger Wappen darauf. Ihre Seele ahnte die furchtbare Wahrheit, noch während ihre Finger über die Konturen fuhren.

Aber es kann und kann ja nicht sein.

Seine Schuhe, die mit Fuchsfell gefütterten Stiefel, die Lisetta ihm besorgt hatte, wusste der Himmel, woher.

Minutenlang kauerte sie in der Dunkelheit, ohne sich zu bewegen, ohne irgendetwas zu denken.

Ein Grauen, so bedrängend, so umfangend wie Spinnweb, wie die Gänsehaut überall an ihrem Körper.

Denk nach, Markéta, um Himmels willen: Denk nach!

Es kann nicht sein, dass er sich hier ausgezogen hat, dann ohne ein Wort weggegangen ist, splitternackt in die Winternacht hinaus. Niemand würde so was tun, nicht einmal Flor.

Also ist er noch hier und wartet auf mich, irgendwo dort in der Tintenschwärze?

»Flor?« Nichts. »Flor!« Nichts, nichts, nur das traumleise Echo ihres Wisperns.

Wieder tastete sie herum, begann durch den Tunnel zu kriechen, nach links und rechts, dann quer über den Fahrweg.

Nichts! Nur reichlich Dreck und Stein und schmelzender Schnee.

Ihr neuer, wunderschöner Umhang musste aussehen wie Hezilows ärgste Lumpen, schlammverschmiert und triefend vor Bracke.

Als ob es darauf jetzt ankäme! Wie um sich für die schändliche Abschweifung zu bestrafen, kroch sie noch verbissener auf dem Boden umher, den wundervoll weichen Zobel absichtlich durch die Pfützen schleifend. Doch von Flor fand sie keine weitere Spur.

Denk nach, Markéta, um Himmels willen, denk nach!

Sie versuchte sich zu erinnern, das Chaos der Geräusche zu vergegenwärtigen, als die Kutsche an ihr vorübergebraust war. Konnte es sein, dass sich andere Klänge mit hineingemischt hatten, Laute eines verzweifelten Kampfes, keine dreißig Zoll neben ihr, Laute, die ihre Vorstellungskraft arglos verwendet hatte, um das Phantasiebild der vorüberdonnernden Kutsche auszumalen?

Und dabei hatte Flor ihr gerade eben erzählt, dass es ihm so, ganz genau so erst im Sommer ergangen war! Dass die Lumpenkerle ihn überfallen, ihm die Kleider vom Leib gerissen, ihn betäubt und mitgenommen hatten - so, ganz genau so!

Eine Wiederholung, dachte sie, was heißt das? Der gleiche Zug, ein zweites - oder siebtes, oder hundertstes - Mal ausgeführt, zu welchem Ende?

Sie sind beide verschwunden, Flor aus meinen Armen, der Bader vor aller Augen: Es kann nicht sein und ist doch wahr.

Nun, da ihr die Wiederholung aufgegangen war, schien ihr Flors Verschwinden in gewisser Weise noch weniger wirklich, aber zugleich, und mit jedem Moment stärker, wie der Widerschein einer tieferen Wirklichkeit.

Markéta raffte seine Sachen zusammen, den Umhang, das Gewand, seine Stiefel, und rappelte sich auf. Ihr Atem ging keuchend, ihre Sohlen knirschten im Schnee, ein Nachtvogel stieß einen keckernden Schrei aus. Und mit einem Mal schien es ihr, als wäre dies alles - die majestätische Burg, der grandios darüber gespannte Himmel, die Reinheit des Schnees, die salzige Wärme ihrer Tränen, das nasse Bündel in ihren Armen -nur Bühne und Kulisse, Schminke und Kostüme eines ungeheuren Betrugs.

»Erweicht die Substanz, ohne sie zu schmelzen.«

ACHT - CERATIO

76

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Madame: In den zurückliegenden Monaten war ich nicht immer ganz sicher, ob ich noch Gelegenheit finden würde, diese Partie zu Ende zu führen. Aber ich bitte Euch, mir zu glauben, dass ich niemals aufgehört habe, unseren Sieg für möglich, ja für wahrscheinlich zu halten - la victoire pour les blancs.«

Ihr Lächeln wirkte matt, kein Wunder nach den erlittenen Verlusten. Das Dasein einer Schachkönigin hatte sie sich gewiss weniger zehrend vorgestellt.

Man schrieb den 27. Dezember 1607 A.D. den letzten Donnerstag des in den allerletzten Zügen liegenden Jahres. Die Welt vor d’Alemberts Fenstern war unter fingerdickem Eis versiegelt, das in der Wintersonne gleißte wie ein riesenhafter Spiegel. Und doch wissen wir beide, Markéta, dass diese Welt ganz etwas anderes ist.

Seit er den Weihnachtsabend im Großen Saal verbracht hatte, fühlte sich d’Alembert überraschend gekräftigt. Im Stillen führte er diese Wiedererweckung seiner Lebensgeister auf den Anblick des Mumienknäbleins zurück, das während des ganzen Weihnachtsfestes vor ihm durch seine Welt aus Spiritus geschwebt war, doch er scheute sich, davon zu sprechen, so wie er auch niemals irgendwem von seiner Begegnung mit dem Bändiger Bandinello berichtet hatte.

»Lasst uns methodisch vorgehen, Madame«, schlug er vor, »wie es einem guten Spieler geziemt.« Er richtete den Daumen seiner linken Hand auf und klopfte mit seinem Stöckchen dagegen. »Am Weihnachtsmittag ist der Bader Pichler verschwunden - im Hospizsaal, vor aller Augen, wie Ihr sagt.«

Aufmerksam sah sie ihn an, ein wenig vorgebeugt in dem Fauteuil sitzend, das Pavel extra für sie vor den Kamin gerückt hatte.

»Am Weihnachtsabend« - er hob den Zeigefinger - »ist der Nabellose abhanden gekommen, im Durchhaus, direkt von Eurer Seite, wie Ihr mir erklärt habt. Und die Rätselfrage lautet nun: Was hat diese vermeintlichen Wunder möglich gemacht? Da Ihr ja wohl so gut wie ich davon ausgeht, dass es sich nicht um wahrhaftige Wunder handelt, ungeachtet des Datums, das sich für übernatürliche Interventionen allerdings anbieten würde.«

Tatsächlich fühlte er sich mit jedem Satz, jeder eleganten Formulierung besser, den schönen Künsten zurückgegeben, wie er sich im Überschwang sagte. Für einen Moment erwog er sogar, sich von seinem Sofa zu erheben und zwischen Tür und Fenster auf und ab zu gehen, was auf seinen Geist immer sehr ermunternd gewirkt hatte. Doch er tat besser daran, seine Kräfte noch zu schonen. Überdies hockten Fabrio und Lenka auf dem Teppich zu seinen Füßen und wandten keinen Blick von seinem Antlitz.

»Aber ich fleh Euch an, Maître«, rief Markéta in seine Betrachtungen hinein, »sagt’s mir schnell und einfach, wenn Ihr’s wisst: Wo sind sie hin? Wo ist Vater Sigmund, wo Flor? Erzählt mir doch bitte nichts von echten oder falschen Wundern, ich verreck vor Angst und Schmerz!«

D’Alembert setzte eine reuige Miene auf, doch seine Gedanken waren von den Wunden ihrer Seele weit entfernt. »Ich habe ihn einmal unterschätzt, Madame, ein Fehler mit weitreichenden Folgen, wie ich heute weiß. Ich habe zugelassen, dass er in mein Terrain eingedrungen ist, dass er meinen Geist behext hat mit Bildern seiner Welt und Wirklichkeit. Das darf nie wieder geschehen, und mehr noch: Um die Scharte auszuwetzen, müssen nun auch wir zu ihm hinüber, in sein Terrain und ihn blenden, wie er uns verblendet hat.«