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Da oben, Markéta, sieh doch, unter der Decke, wo die Finsternis so dick wie Tinte ist: Da lauert er, der alte Drach’!

Auch die Verse wurden ihm gleich wieder lebendig - »Ich flieg hinweg, es sei denn, dass man mich anbind gar wohl mit Maß« -, so lebhaft, dass er sie laut aufgesagt hätte, wäre Markéta ihm nicht mahnend in die Rede gefahren.

Still, still, bei allen Heiligen, lieber Flor!

Aber er schwieg ja schon still - »Ich hab viel Form, Farb und Gestalt/führ in mir Manns und Weibs Gewalt« -, leise rappelte er sich auf, seine Kette geistesgegenwärtig straffend, um ihr Klirren zu einem rostigen Gewisper zu dämpfen. Er wagte kaum zu atmen, noch weniger seinen Blick zur Decke zu erheben, während er sich hinter einer Säule verbarg - »Wer also bin ich, schweb unterm Dach; kein andrer als Ourob, der alte Drach’.«

Nur ruhig, ganz ruhig, ich bin ja bei dir, lieber Flor.

Von Hezilows gewölbten Händen umschlossen, stieg das Seil langsam in die Höhe, unter misstönendem Kreischen einer Winde, die sich droben unter der Decke befinden musste, auch wenn dort nichts zu sehen war, nur Finsternis, worin die dunkelroten Augen glühten.

Ebenso langsam, unter puppenhaftem Rucken und metallenem Kreischen, schwebte am anderen Seilende der riesenhafte Drache hernieder.

Flor begann zu zittern, seine Kehle voll zerquetschter Schreie.

Sieh doch, Markéta, sieh doch: der schwarze Vogel der Nacht! Seine Federn sind Menschenhaar, Leib und Schwingen von Lederhaut umschlossen, Markéta, und sieh doch - seine Augen!

Funkelnde Karbunkeln, ich seh’s ja, mein kleiner Flor.

Die Zähne aufeinander gebissen, um sich nicht durch knöchernes Klappern zu verraten, stand Flor im Schatten der Säule und sah unverwandt zu, wie der Magister, geschäftig auf und ab humpelnd, einige verschobene Knochen in der linken Schwinge richtete, dann einen prall gefüllten Sack und eine Schüssel voll Knochenleim herbeiholte. Mit hölzernem Löffel verstrich er Leim auf schütteren Stellen im Bestiengefieder, dann zog er Büschel schwarzen Menschenhaars aus dem Hadersack und füllte die Lücken damit auf.

Das ist sein Geheimnis, sein tiefstes Geheimnis, armer Flor.

80

Die Brust des Maître hob und senkte sich wie ein Blasebalg, und sein Atem ging stoßweise. Er fühlte sich prächtig wie seit vielen Jahren nicht mehr. Unter ihm wand und bäumte sich der Syrakuser, nahezu nackt wie er selbst. Schulmäßig hatte er Fabrio auf den Rücken geworfen, mit einem raschen Griff um seine Hüften, und ehe der Knabe sich von seiner Verblüffung erholt hatte, hockte d’Alembert auf ihm, die Schenkel gegen Fabrios Flanken pressend und seine Handgelenke mit eisernen Fäusten umfassend.

D’Alembert genoss die Bewunderung in Fabrios Blick, hingerissen sah er auf den Jungen hinab, dessen Brust glänzte wie ein Bronzeschild. »Fünf ... sechs ... sieben ...«, stieß er keuchend hervor und musste sich Schweiß aus den Augen blinzeln.

Noch einmal versuchte sich Fabrio aus dem Griff seines Bezwingers zu befreien. Seine Brust- und Armmuskeln schwollen eindrucksvoll an, seine Hüften bäumten sich empor, und sein Teint nahm einen nahezu violetten Ton an. Aber der Maître ließ sich den Sieg nicht mehr entreißen.

»Acht ... neun ... und aus!« D’Alembert löste den Zangengriff seiner Fäuste und Schenkel und erhob sich, schweißüberströmt und schwindlig vor Anstrengung, aber mehr noch vor Stolz. Seine Lunge brannte bei jedem Atemzug, und er musste sich die Fäuste in die Seiten drücken, wie in jüngeren Jahren, wenn er auf seinem Schimmelhengst über den Turnierplatz galoppiert war.

»Ihr seid mir über, Maître«, japste Fabrio, der immer noch am Boden lag, wie d’Alembert ihn hingeworfen hatte, mit bewunderndem Lächeln und geröteten Wangen.

Am liebsten wäre d’Alembert neben ihm niedergekniet, um ihn auf die vorgestülpten Lippen zu küssen, aber das kam nach wie vor nicht in Betracht. Ohnehin waren sie nicht allein in diesem notdürftig entrümpelten Saal im entlegensten Burgflügel.

Die Morgensonne drang durch Ritzen und Löcher in den morschen Fensterläden und überzog Boden und Wände mit einem Netz bleicher Strahlen. Im Hintergrund des Saals lauerte eine ganze Horde teuflischer Bestien, übermannsgroß und mit dämonischer Detailtreue auf die Eichwand gemalt. Neben Fabrio aber, der sich nun aufrappelte und seinen verrutschten Schurz zurechtschob, standen ihre drei Mitstreiterinnen, immer noch starr und stumm vor Erstaunen.

Man schrieb den 29. Dezember 1607 A.D. Gestern früh waren zwei Pestgräber geöffnet worden, und die hastige Beschau hatte ergeben, dass Hezilow durchaus kein ehrenwerter Mann war.

Seit Tagen bereitete sich d’Alembert unermüdlich auf den »vorletzten Schachzug« vor, ihren Abstieg in Hezilows Hölle. So heimlich wie beharrlich hatte er mit Fabrios Hilfe seinen vom Fieber ausgeglühten Leib gestählt. Glücklicherweise hatte sich der Syrakuser als passabler Ringer erwiesen - als so listig und geschmeidig sogar, dass d’Alembert anfangs wieder und wieder zu Boden geworfen worden war, mit beschämender Raschheit und einmal mit solcher Gewalt, dass ihm der Schädel wie eine Kriegstrommel gedröhnt hatte.

Voller Zufriedenheit sah er nun in die Gesichter ihrer kleinen Streiterschar, von den beiden Syrakusern zu Lisetta und schließlich zu Markéta. Besonders die Baderstochter konnte sich offenbar nicht fassen vor Erstaunen über die Verwandlung des Maître, der barfüßig vor ihr stand, die sehnige Brust entblößt und noch immer tropfnass vor Schweiß.

Nun machte er Fabrio ein Zeichen, und der Syrakuser sprang zum Fenster, wo ihre Gewänder hingen, warf sein eigenes Hemd über und kehrte mit d’Alemberts Mantel nebst Futteral eilends zurück. »Höchste Zeit für den vorletzten Zug«, sagte der Maître und ließ sich von Fabrio in den Mantel helfen, mit dem Rücken zu den drei anderen, die schweigend warteten, bis er weitersprach.

Nur den wenigsten Menschen wird jemals bewusst, dachte d’Alembert, dass es hinter der spiegelnden Schauseite ihrer Welt noch mindestens eine weitere Wirklichkeit gibt. Tatsächlich lebten die meisten Personen im tölpelhaften Stil jener Theaterbesucher, die sich vom Schein der Bühnenwelt ganz und gar bannen ließen. Dabei werkten zur gleichen Zeit Dutzende unsichtbarer Illusionisten auf dem Schnürboden über der Bühne und im Machinationenkeller darunter. Der Kulissenmaler, Maskenbildner, Kostümschneider nicht zu gedenken oder gar des Mannes, der die Theaterwelt erdichtet hatte und allen Akteuren bis aufs i-Tüpfelchen vorschrieb, wann und wo sie welche Worte zu schreien, zu singen, zu deklamieren hatten. Und wann es ans Sterben ging.

»Das erste Dutzend Partien habe ich schmählich verloren«, sagte er, indem er sich wieder zu den Frauen umwandte, die Arme vor der Brust verschränkt. »Immerhin habe ich mit einem Gegner gerungen, der weniger als halb so viele Jahre zählt wie ich und in den zurückliegenden Wochen auch keinen wütenden Löwen in seiner eigenen Brust bekämpfen musste. Aber ich bin rasch wieder zu Kräften gekommen - nicht zuletzt durch Euer stärkendes Specificum, Madame«, fügte er mit einer Verbeugung in Markétas Richtung hinzu.

»Und seit gestern früh hat dieser wilde Bursche hier« - er versetzte Fabrio einen Rippenstoß - »nicht einen Ringkampf mehr gegen den alten d’Alembert gewonnen. Habe ich Recht?«, fragte er den Syrakuser, der sogleich beteuerte: »Keinen einzigen, Maître! Und dabei dacht ich immer, mich könnt keiner aufs Kreuz legen - außer wenn ich’s selber will.« Er bedachte d’Alembert mit einem glühenden Blick.

»Ah, Monsieur«, mischte sich Markéta ein, »jetzt begreif ich, worauf Ihr hinauswollt, aber ich beschwör Euch: Ihr wärt wahnsinnig, Euer Leben ...«

D’Alemberts erhobene Hand brachte sie zum Verstummen, auch ohne das gewohnte Stöckchen. »Hört mich an, Madame, ich bitte Euch.« Wieder sah er ihre kleine Schar einen nach dem anderen an, ehe er weitersprach: »An manchen Tagen, wenn ich fiebernd darniederlag, fürchtete ich, dass mein Ich aus den glühenden Wüstenwelten nicht mehr zurückfinden würde. An solchen Tagen zwang ich meinen Geist, mir Schritt für Schritt vor Augen zu führen, wo überall in diesen Gemäuern verborgene Gänge, Treppen, Schächte verlaufen müssen.«