Er fasste unter seinen Mantel, wo er Bandinellos hirschledernes Futteral auf der bloßen Haut trug, und zog mit beiläufiger Geste ein Wurfmesser hervor. »Ich bedachte die Grundrisse der Gebäude und ihre Anordnung zueinander, Schnitt und Größe der Säle, Zimmer und Gemächer, die Dicke der Mauern, den Verlauf von Fluren und Treppenhäusern. Nach und nach zeichnete sich vor meinem inneren Auge eine komplexe Gegenwelt ab. Immer wenn ich mir einen Ausschnitt der sichtbaren Seite ins Gedächtnis rief, sah ich gleichzeitig, wie einen Schatten, auch die normalerweise unsichtbare Rückseite vor mir.« Er spähte an Markétas linker Schulter vorbei. Die Eichwand mit den aufgemalten Höllenkerlen war etwa zwanzig Schritte entfernt. Er kniff die Augen zusammen und ließ das Messer mit einer eleganten Handbewegung davonwirbeln. Markéta zuckte zusammen und sah dem Wurfgeschoss mit entgeisterter Miene hinterher.
»Durch diesen Kunstgriff«, fuhr er fort, »hinderte ich meine fiebernde Seele, in menschenwidrige Gefilde zu entfliehen, und gewann zugleich ein immer klareres Bild vom steinernen Irrgarten im Innersten dieser Burg.« Ohne sich nochmals zu unterbrechen, zog er nun Messer um Messer aus dem Etui und warf eins nach dem anderen in Richtung der Teufelswand. »Was mich jetzt in die Lage versetzt, Euch, Madame, einen unbewachten Weg in Hezilows Hölle zu weisen - Euch und uns allen, denn ich werde mit Euch gehen, und wie Ihr seht, bin ich gut gerüstet.« Er zückte das siebte Wurfmesser und schleuderte es den Teufeln entgegen, fast ohne hinzusehen. »Bisher, Madame, kanntet Ihr nur den Obersthofmeister d’Alembert. Heute sollt Ihr den Bestienbändiger kennen lernen - Ihr und vor allem die Bestie selbst.«
Lächelnd bot er ihr seinen Arm, und Markéta hängte sich nach kurzem Zögern bei ihm ein und ließ sich quer durch den leeren Saal zur Eichwand führen. Das kolossale Ölgemälde war vom Alter gedunkelt, der hölzerne Untergrund mit Rissen überzogen. Dennoch waren die sieben Teufelsfiguren, die der mäßig begabte Künstler wie im Puppentheater nebeneinander aufgereiht hatte, deutlich zu erkennen: ihre feixenden Fratzen, die obszönen Hörner, die Bocksfüße, Satansschwänze. Und die sieben blitzenden Messer, die in sieben Teufelsstirnen steckten und die d’Alembert nun mit gelassenem Lächeln eines nach dem anderen aus dem Holz zog und wieder in seinem Etui verstaute.
Endlich zog er seinen Ringermantel abermals über der Brust zusammen und blickte Markéta fragend an. »Nun, Madame -besteht Ihr noch immer darauf, ohne mich in Hezilows Hölle hinabzusteigen?«
Die Baderstochter trug wieder jenes einfache, hellbraune Kleid, das sie während ihrer ersten Tage auf der Burg bevorzugt hatte. Einen Moment lang erwiderte sie starr seinen Blick, dann schüttelte sie sichtlich widerstrebend den Kopf. Charles überlief ein Frösteln. O ja, er fühlte sich nahezu gesund und stark wie seit langem nicht mehr, allerdings bei weitem nicht so gefestigt und seiner selbst gewiss, wie jemand sich fühlen sollte, der in die Hölle hinabzusteigen gedachte. Und lebend wieder emporzuklettern.
»In einer Stunde«, sagte er, »in meinem Salon.«
81
»Eine der geheimen Röhren verläuft parallel zu dem Kaminschacht hinter dieser Wand«, sagte d’Alembert. »Ich habe gestern einen Blick hineingeworfen. Schmale, schlüpfrige Stufen, aber man gelangt wohl hinab.« Er deutete auf die Wand neben seinem Kamin, in dem zuckende Flammen wie blau gewandete Mönche um einen glühenden Scheiterhaufen tanzten.
Ein letztes Mal schweifte sein Blick über ihre klägliche Schar. Er hatte angeordnet, die Haare der Zofe und der Zwillinge in Flors goldblondem Ton zu färben, Lisettas Schopf zusätzlich in Locken zu legen und jeden sichtbaren Zoll syrakusischer Haut so mondbleich zu färben, wie die Leiber Flors und Lisettas von Natur aus waren. Im Halbdunkel des Kellergewölbes mochten die drei notfalls als Doppelgänger des Nabellosen durchgehen, zumal sie kurze, zerlumpte Hemden trugen und zumal Hezilow wenig Gelegenheit zu bedächtigen Nachprüfungen bliebe. »Sei jetzt so liebenswürdig, Fabrio«, bat er schließlich, »und nimm die Verblendung weg.«
Der Syrakuser tat wie geheißen. Mit seinen goldenen Locken und der mehlbleichen Haut unter dem Lumpenhemd bot er einen absonderlichen Anblick. Seine Finger glitten unter das mit weißer Seide tapezierte Eichenbrett, das sie gestern nur noch lose an seinem alten Ort befestigt hatten. Dahinter kam eine schmale Tür zum Vorschein, der schwarze Lack stellenweise abgeblättert, doch auch das Holz darunter war, vor Ruß oder Alter, nahezu schwarz.
Ein Schauder lief d’Alembert über den Rücken, als er zu Fabrio trat und die leise knarrende Tür aufzog. Neben dem Kamin lag der Sack voller Fackeln und anderer Hilfsmittel, die die Zwillinge gestern auf sein Geheiß zusammengetragen hatten. Er bedeutete Fabrio, die Last zu schultern, und warf einen letzten Blick zu Markéta. Die Baderstochter war dicht hinter ihn getreten und spähte aus grünen Augenschlitzen in den finsteren Schacht.
»Kein Licht«, flüsterte er, »höchstens in der ärgsten Not.«
Auf Filzsohlen machten sie sich an den Abstieg, d’Alembert vorneweg, die Zwillinge zum Schluss, die den leise klappernden Hadersack schleppten, zwischen ihnen Markéta, die an einer Hand Lisetta mit sich zog.
Der Schacht war so eng, dass selbst d’Alemberts schmale Schultern immer wieder an die Mauern streiften, die Wände unerwartet glatt und klamm, wie schweißfeuchte Haut. Dunkelheit umschloss sie, so vollkommene Nacht, dass er nicht einmal einen Schatten von Markéta sah, als er sich zu ihr zurückwandte; dabei lag ihre Hand auf seiner linken Schulter. Hinter den Mauern hörte er hin und wieder leises Murmeln, so als ob sie in einem riesenhaften Schädel abwärts stiegen, durch rieselnde Gedanken hindurch.
Wie ärgerlich, dass uns das Offenkundige meist zuletzt auffällt: Das hatte er in den letzten Tagen oft gedacht, nicht nur der verborgenen Röhren und Gänge halber, mehr noch im Hinblick auf den »alten Drach’«, von dem der Nabellose so hartnäckig gestammelt hatte.
Warum nur hatte er dennoch lange Zeit geglaubt, dass Flors verstörte Seele sich den »schwarzen Vogel« nur eingebildet habe? Immer wieder hatte er hin und her gesonnen und war doch jedes Mal zum selben Schluss gekommen: Selbst wenn man unterstellte, dass der Magister möglicherweise Blei in Gold verwandeln konnte, die Annahme, dass er einen lebendigen Drachen zu erschaffen vermochte, war eine Beleidigung des menschlichen Geistes.
Und dabei hatte d’Alembert die Winden und Seile, mit denen Hezilow seine Apparatur aus Spiegeln bewegte, ja mit eigenen Augen gesehen! Dennoch war ihm erst am Weihnachtsabend gedämmert, beim Anblick des lederhäutigen Mumienknäbleins, dass seine Gedanken fehlgegangen waren.
Wie ein Engel schwebte Lenkas Satansfrucht in ihrer Welt aus Spiritus, obwohl sie weder Flügel besaß noch überhaupt lebendig war. Und ebenso brauchte der riesenhafte Vogel, um in Hezilows Unterwelt umherfliegen zu können, durchaus kein leibhaftiger Drache zu sein, natürlich nicht.
Hinter der Baderstochter schlich Lisetta leise wimmernd dahin, gefolgt von den miteinander flüsternden Syrakusern.
»Schscht«, machte d’Alembert, »der Schacht verstärkt jeden Laut!«
Sie verstummten. Nur leiser Atem aus fünf Kehlen war noch zu hören, dazu tappende Schritte und gelegentliches Murmeln im Mauerwerk.
Bei dem vermeintlichen Drachen, dachte d’Alembert, musste es sich also um eine Machination handeln, einen Apparat, den Hezilow aus vielerlei Gründen in seinem Labor installiert haben konnte: um die Gefangenen, die in seinen Kellern schmachteten, einzuschüchtern und jeden Fluchtversuch zu vereiteln; um in Knäblein wie dem kleinen Flor, die er einer unseligen Mutter vor langen Jahren abgelistet hatte, den Glauben einzupflanzen, dass er sie wahrhaftig in seinen Tiegeln erschaffen habe; weil er einem satanischen Wahnsinn verfallen war - oder aus allen diesen Gründen zusammen und einigen weiteren dazu.