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Schritt um Schritt stiegen sie auf schlüpfrigen Stufen, in tintendicker Schwärze weiter hinab. Wenn Julius von unserem Verrat erfährt, dachte d’Alembert, lässt er uns alle fünf hinter Jakob Schatzens Hurenhaus aufknüpfen.

Nach seinen Berechnungen führte der Schacht bis auf das Fundament der oberen Burg hinunter, so nämlich, dass die Treppe genau über Hezilows großem Gewölbesaal endete. Dort würden sie eine Falltür oder eine andere Art von Durchschlupf vorfinden, davon war er überzeugt. Denn einen geheimen Treppenschacht über drei Geschosse hinabzuführen, der dann blind auf den Fundamenten endete, das wäre ja so, als würde man einen Schachbauern kurz vor der Ziellinie aufgeben, anstatt ihn mit dem nächsten Schritt in eine Königin umzuwandeln.

Verehrte Königin, dachte d’Alembert, ma chère Madame Katharina, mit dem nächsten Zug schicke ich den Bauern aus; o ihr Götter, lasst es nicht Fabrio sein.

Im nächsten Moment fand er immerhin in einem Punkt seine philosophische Zuversicht belohnt: Der Treppenschacht endete über einer kreisrunden Falltür. D’Alembert bückte sich und zog den Deckel empor. Sein Blick fiel in schwindelnde Tiefe, in den riesigen Felsensaal wohl zwanzig Schritte unter ihnen, wo sich zwergische Gestalten an Tischen und Öfen zu schaffen machten. Ein Wirrwarr leiser Geräusche drang zu ihnen empor, doch einzelne Laute waren aus dieser Höhe nicht zu unterscheiden. In Wandnischen, auf Tischen und Borden brannten wiederum Hunderte Fackeln und Kerzen, und dennoch hatte d’Alembert Mühe, die Szenerie dort unten in den Blick zu fassen.

Etwas Gewaltiges versperrte ihm die Sicht. Zwanzig Zoll unter seinen Füßen schwebte der riesenhafte »Vogel der Nacht«, groß wie drei Löwen, aus roten Karbunkelaugen glotzend und gefiedert mit schwarzem Menschenhaar.

D’Alembert atmete tief ein, dann machte er einen Schritt ins Leere und hockte im nächsten Moment rittlings auf dem Drachen, der unter dem Anprall heftig ins Schwanken geriet.

82

Im Gleitflug schwebte der schwarze Riesenvogel durch die Halle, auf die glühende Doppelsonne des Athanor zu, wo der Puppenmacher eben einen milchig weißen Saft ins Kupferbecken gab. Die Winden über ihnen kreischten zum Erbarmen, die Seile ächzten und bebten, der Drache selbst schien sich zu schütteln, wieder und wieder, wie eine lebendige Bestie, die nach langem Schlaf erwacht.

D’Alembert fühlte sich prachtvoll, wie beseligt von feinstem Champagner. Deshalb musste ich den Bändiger Bandinello treffen, vor zwanzig Jahren, dachte er, deshalb Don Julius treulich begleiten, bis zum heutigen Tag, bis an diese Stätte, wo die Bestie meiner harrte, das Untier, das ich bezwingen muss, ich, Charles d’Alembert, niemand anders.

In seinem Rücken spürte er Markéta, an seine Schultern geklammert, hinter ihr Lisetta und die Syrakuser rittlings aufgereiht. Anfangs hatte der Maître Mühe gehabt, den schwarzen Vogel zu steuern, dabei war das Prinzip denkbar einfach. An Ringen und Drähten aufgehängt, glitt der Apparat unter armdicken Seilen dahin, die sich wie ein Spinnennetz über die Hallendecke spannten. Je zwei Seile hingen links und rechts von den Lefzen der künstlichen Bestie hinab, so nämlich, dass sich durch Anziehen und Lockern die Fahrt beschleunigen oder verzögern, der gewaltige Leib seitwärts, geradeaus oder auch abwärts lenken ließ.

Unterdessen hatten die Lumpenkerle unten am Ofen bemerkt, dass der Apparat auf sie zugesegelt kam, mit glotzenden Karbunkelaugen und wehender, pechschwarzer Mähne. Noch mochten sie glauben, dass allenfalls ein Seil gerissen war und nicht etwa eine ganze Schar weißer Himmelsreiter auf sie herniederkäme. D’Alembert sah sie gestikulieren, Blicke wechseln, mit rußigen Händen zum Drachen emporfuchteln, der in diesem Moment über sie hinwegschwebte, auf jenen finsteren Gewölbewinkel zu, wo die drei Glasballons über dem Kohlemeer hingen.

Alles war aufs Genaueste geplant, und dennoch verspürte d’Alembert mit einem Mal leises Unbehagen. Auf sein Zeichen hin zog Fabrio das Seil aus dem Hadersack, zurrte das eine Ende um den Schwanz des Drachen und warf das andere hinab. Unter ihnen glühte das Kohlemeer, hingen die Aufgeknüpften über den Kristallballons, in denen die blasphemische Brühe brodelte. D’Alembert hob eine Hand, und der Syrakuser sauste in die Tiefe, die Beine ums Seil geschlungen, zwischen seinen Zähnen das Messer, das er auf d’Alemberts Geheiß im gräflichen Schlachthaus entwendet hatte.

Einen hastigen Herzschlag später landete Fabrio auf dem Käfig hinter den Glasballons. Dutzende Augenpaare spähten zum Drachenapparat empor, der unter grässlichem Ächzen und Beben über ihnen innehielt. Der goldgelockte Syrakuser sprang hinab, sprengte mit seinem Messer Riegel und Türen auf. Schon krauchten die Elenden aus dem Kasten hervor, einem Käfig für menschliches Schlachtvieh.

Markéta und der Maître beugten sich vom Drachenrumpf hinab, Äxte in den Händen, die Lenka in der gräflichen Schmiede stibitzt und Lisetta ihnen zugereicht hatte. Die Kristallballons schwebten über der Kohleglut, mit dicken Seilen an eisernen Galgen befestigt. Mit ihren Äxten hieben d’Alembert und Markéta auf die Seile ein, die den rechten und den linken Glasballon fixierten, der eine mit dunkelrotem Saft gefüllt, der andere mit einer sämig weißen Flüssigkeit, durch die sich rote Schlieren zogen.

Vergebens beschwor sich d’Alembert, nicht auf das schaurige Trio entblößter Frauenleiber zu achten, die neben ihm kopfüber in der Luft schaukelten, über dem rechten Glasballon: die Augen aufgerissen, während das rote Blut aus ihren Kehlen rann, über Kinn und Wangen, aus den Haaren in die Kugel unter ihren Häuptern tropfte. Ungeheurer noch schien ihm der Anblick der Gepeinigten über dem Kristallballon, auf deren Seil Markéta einhieb, drei junge Burschen, deren Lebenssäfte aus der klaffenden Leibesmitte troffen. Verzweifelt hackten sie beide auf die Seile ein, endlich krachten die Kugeln hinab, in Myriaden Splitter zerberstend. Die im Glas gestauten Fluten ergossen sich auf den Boden und löschten die Kohleglut. Im nächsten Moment rannten die Befreiten aus ihrem Käfig hervor, funkelnde, wirr gezackte Scherben in den Händen.

An Fabrios Seil glitten nun auch Lisetta und Lenka nach unten, dann beschrieb der Apparat, von d’Alembert gesteuert, eine Kurve und schwebte unter schaurigem Stöhnen zur Mitte des Felsensaals zurück. Drunten liefen Hezilows Lumpenkerle wild durcheinander, schreiend und gestikulierend. »Der Nabellose - da, fang ihn ein!«, hörte d’Alembert, und gleich darauf: »Holzkopf, da drüben läuft er doch!«

Meine List bewährt sich, dachte der Maître. Überall im Gewölbe sprangen Dubletten des Nabellosen umher, Fabrio, Lisetta, Lenka, heillose Verwirrung stiftend. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass sie des Nabellosen ebenso wie Hezilows bei lebendigem Leibe habhaft werden mussten. Nur wenn er beweisen, unzweifelhaft beweisen konnte, dass Flor nicht aus der gläsernen Mutter entsprungen, der Magister kein Erleuchteter, sondern ein teuflischer Blender und Schinder war, nur dann wäre der Bann wirklich gebrochen und der Satansspuk vorbei.

Und nicht zuletzt, dachte d’Alembert, war das Maskenspiel, die foppende Vervielfachung des Nabellosen, seine persönliche Revanche für den dreistesten Kunstgriff des Lumpenteufels, der ihn selbst durch alle Fieberträume verfolgt und verzaubert hatte, die Millionen winziger Homunkel hinter dem Prismenglas. Aber alle Schläue, alle Schliche wären vergebens, wenn sie die Puppen überwältigten, doch der Puppenmacher unbehelligt bliebe.