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Weiter hinten im Gewölbe bemerkte d’Alembert nun Markéta, die am Boden saß, den Rücken an eine Säule gelehnt. Neben ihr lag ein Alter rücklings hingestreckt, der gewaltige Bauch im Profil emporgewölbt, der kahle Kopf in ihren Schoß gebettet. Selbst aus zehn Schritten Entfernung erkannte d’Alembert, dass es der Bader sein musste.

Er erhob sich, ging auf wackligen Beinen zu ihnen hinüber und beugte sich über Sigmund Pichler, um ihn zu seiner Rettung zu beglückwünschen. Doch dann prallte d’Alembert wie von einer Faust getroffen zurück. In Pichlers Stirn klaffte ein fingerbreiter Spalt.

Er murmelte eine Floskel, die sein Mitgefühl und mehr noch seine Verstörung ausdrückte, wandte sich um und winkte Fabrio herbei.

»Bring mich nach draußen«, sagte er, »ich brauche frische Luft, sonst falle ich auch noch um.«

Seine eigenen Worte schienen ihm geschmacklos, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Er legte Fabrio einen Arm um die Schultern und schleppte sich durch ein Wirrwarr aus Toten und Verwundeten, Blutpfützen und Scherben, umgestürzten Becken und Tiegeln, aus denen Tinkturen in fieberbunten Farben flossen, auf der ansteigenden Straße dem Gewölbetor entgegen.

Lisetta stolperte ihnen in den Weg, im rußigen Lumpenhemdchen, die dünnen Haare zu dürftigen Goldlocken gelegt. »Maître d’Alembert, ich fleh Euch an - habt Ihr nicht Flor gesehen?«

Er schüttelte den Kopf, und die kleine Zofe blieb zurück. »Als Nächstes muss ein Bote nach Vargasz reiten«, sagte er zu Fabrio, »zur Poststation, wo der Kurier wartet.«

Der Syrakuser nickte, auch über diesen Punkt hatten sie hundertmal gesprochen. »Aber was ist mit Hezilow, Maître? Wenn er zurückkommt oder sich doch noch hier versteckt hält, irgendwo in der Burg?«

Abermals schüttelte d’Alembert den Kopf, schweigend ging er weiter, auf die schmalen Schultern des Knaben gestützt. Er würde mit Julius sprechen, auf der Stelle zu ihm gehen und auf einer Unterredung bestehen. Selbst wenn Julius sich durch nichts anderes mehr lenken ließe, seine Drohung mit dem verzehrenden väterlichen Zorn hatte noch nie versagt, nicht ein einziges Mal in zwanzig Jahren. Es wird Zeit, sagte sich der Maître, allerhöchste Zeit, dass ich Stock und Peitsche wieder in die Hände nehme, die Bändigung des Bastardsohns.

Ganz kurz und sehr beunruhigend sah er den bläulichen Engel vor sich, wie er vor der klaffenden Stirn jener Kreatur schwebte. Was wäre aber, dachte er, wenn Hezilow kein bloßer Betrüger wäre, wenn er tatsächlich die Geheimnisse kannte, wie sich Gold aus Dreck erzeugen ließe und lebendige Menschen aus Tiegel und Pelikan? Wenn er den Nabellosen wahrhaftig erschaffen hätte, nicht nur mit Lug und Blendwerk zum PseudoHomunkel dressiert? Ach was, unsinnige Sorgen, sagte sich d’Alembert gleich darauf wieder, Hezilow ist ein schlauer Betrüger, nichts anderes. Gewiss wäre alles sehr viel einfacher, wenn wir den Lumpenteufel und seinen Nabellosen in Gewahrsam hätten, aber ich werde ihm die Augen schon öffnen, seine Furcht vor der väterlichen Wut schüren, dann muss Julius dem Magister abschwören.

Unter derlei schwankenden Erwägungen erreichte d’Alembert endlich das Gewölbetor, stieß mit Fabrios Hilfe Riegel und Balken beiseite und zog beide Flügel auf. Sie traten hinaus auf den Hof, ihre Augen gegen die Nachmittagssonne beschirmend, die vom wolkenlosen Himmel schien. Und da erst, in diesem Augenblick, als er, von Licht übergossen, mit Fabrio über die Schwelle schritt, wurde d’Alembert bewusst, was für ein ungeheures Wagnis sie eingegangen waren.

Durch die Hölle gegangen und ins Licht zurückgekehrt. Mit einem Mal hielt er Fabrio in seinen Armen, ohne die mindeste Ahnung, wie es dazu gekommen war. Drei Zoll vor ihm schwebte das lächelnde Antlitz des Syrakusers, und d’Alembert wollte sich ihm eben entgegenneigen, als hinter ihnen, vom Gewölbe her, ein grässliches Stöhnen und Dröhnen ertönte. Das Malmen und Kreischen eines ungeheuren Untiers, das sich wie rasend aus den Tiefen der Unterwelt hervorgrub, in diesem Moment aus dem Gewölbetor schoss und in steiler, windgeschwinder Fahrt in den Winterhimmel stieg.

»Gehabt Euch wohl, Maître Weichkäs!«, kreischte der Puppenmacher hoch über ihren Köpfen, rittlings auf seinem Drachen hockend.

»Wird sich Magister Hezilow anderwärts Aquaster destillieren!« Vor ihm lag der Nabellose, seitlich über den Rumpf der Apparatur geworfen, ein schlaffes Bündel, tot oder in tiefem Schlaf.

D’Alembert und Fabrio sahen ihnen nach, wie sie über die Dächer der Burg hinwegschossen, der Maître förmlich niedergedrückt von der Gewissheit, übertölpelt und besiegt zu sein. In diesem Moment seiner tiefsten Demütigung hielt es selbst d’Alembert für möglich, dass Hezilow lebendige Kreaturen zu erschaffen vermochte, Knaben oder Drachen, aus Blut oder Mondsaft, Lehm oder Lumpen, ganz wie es dem teuflischen Puppenmacher beliebte.

» Vollendet den Stein.«

NEUN - LAPIDIFICATIO

84

Beim sonntäglichen Messegeläut trafen hundertfünfzig Soldaten der kaiserlichen Garde in Krumau ein, angeführt von Oberst Alban Hoyos. Ihnen folgte eine zweispännige Kutsche, in der eine edle Dame ganz in Weiß und ein hübscher junger Bursche mit kohleschwarzen Augen saßen. Man schrieb den 31. Dezember 1607 A.D.

Die vornehme Dame nahm fürs Erste Logis im Gasthaus zum »Goldenen Fass«, dessen Wirtsleute noch immer Trauerflore am Ärmel trugen. Ihr kleiner Silvan war der Pestilenz zum Opfer gefallen, wie Stanislaus Brodner der Edlen erklärte, ihr älterer Sohn Franz aber diene bei der gräflichen Garde, ein ehrenvoller Posten, was den elterlichen Kummer ein wenig kühle.

Währenddessen ließ Oberst Hoyos die Burg umstellen, Don Julius’ Garde entwaffnen und die gräflichen Offiziere in den Hungerturm werfen, allen voran Kommandeur Jan Mular.

Nachdem auch Medikus von Rosert verhaftet worden war, fuhr die Kutsche abermals vor dem Gasthaus vor, der bronzefarbene Bursche mit den kohleschwarzen Augen sprang heraus und half der Dame galant beim Einstieg. Der Zweispänner ratterte die zweihundert Schritte zur Burg hinauf, und die kaiserlichen Gardisten, die an diesem Vormittag Dutzende Personen und Gefährte abgewiesen hatten, ließen die Kutsche anstandslos ein.

Von alledem erfuhr Markéta aus vielerlei Mündern. Burg und Stadt brodelten vor Gerüchten und wundersamen Geschichten, seit der Puppenmacher davongeflogen war, und mehr noch, seit die kaiserliche Garde die Krumauer Burg besetzt hatte. Und doch glaubte Markéta erst in dem Moment, als die Dame in Julius’ Salon trat, dass Katharina da Strada tatsächlich gekommen war, um ihrem Bastardsohn beizustehen.

Maître d’Alembert hatte es vorausgesagt, doch Markéta war sich nahezu sicher gewesen, dass auch die Stradovä sich von ihm abkehren würde, wenn sie hörte, was unter seiner Herrschaft hier in Krumau geschehen war.

»Madame, welch eine Freude, Euch wiederzusehen.« Markéta wollte das Knie vor ihr neigen, aber die mütterliche Mätresse machte einen raschen Schritt und schloss sie in eine zarte Umarmung.

»Um wie viel lieber hätte ich Euch in Prag begrüßt - Euch und meinen Sohn.« Ein Duft von betäubender Süße ging von ihr aus; unwillkürlich hielt Markéta den Atem an. Die Stradovä trug ein Kleid aus schimmernd weißer Seide, die Säume besetzt mit weißen Pelzen, die ihrerseits glitzernd weiße Perlen säumten. Sie musste weit in den Dreißigern sein und hatte dem Kaiser eine häupterreiche Kinderschar geboren, und doch strahlte sie noch immer eine mädchenhafte Schönheit aus, die heute allerdings von mütterlicher Sorge überflort war.

»Eure Nähe wird Julius aufrichten und seine Seele von ihrer Verdüsterung befreien.« Markéta beschwor sich, nicht in Tränen auszubrechen, nicht vor Katharina da Strada, deren meisterliche Selbstbeherrschung d’Alembert so oft vor ihr gerühmt und Julius noch häufiger verflucht hatte.

Seite an Seite gingen sie durch den gräflichen Salon zur Fensterwand, wo Julius im burgunderfarbenen Prunksessel saß. Er trug wieder sein scharlachrotes Habit und sogar die nachgebildete Ottonenkrone, die d’Alembert zu seinem Einzug in Krumau hatte schmieden lassen. Seit drei Tagen, seit Hezilow davongeflogen war, thronte Julius von früh bis spät auf diesem Sessel und weigerte sich, auch nur für einen Augenblick die gräflichen Insignien abzulegen. Vor ihm auf der Staffelei stand das farbenfrohe Porträt, das da Biondo nicht mehr hatte vollenden können. Es zeigte den jungen Grafen in stolzer Haltung auf seinem Thron, den Umhang umgeworfen, die Krone blitzend auf seinem Haupt. Anscheinend bemühte sich Julius, Stunde um Stunde in der genauen Haltung seines gemalten Abbildes auszuharren, auch wenn ihm die Krone schwer werden und die Muskeln schmerzen mussten, und auch wenn das Gemälde bloß ein leeres Antlitz zeigte, ohne Augen, Mund oder Nase, allerdings nach unten hin sich verjüngend zum berühmten Habsburger-Kinn.