Iain M. Banks
Der Algebraist
Für die MacLennans: Andy, Fiona, Duncan, Nicol, Catriona und Robin
Prolog
Ich habe eine Geschichte zu erzählen. Sie hat viele Anfänge und vielleicht auch einen Schluss. Oder auch nicht. Anfänge und Schlüsse sind ohnehin immer willkürlich; Erfindungen, Hilfsmittel. Wo fängt eine Geschichte wirklich an? Alles steht in einem Kontext, einem alles übergreifenden epischen Zusammenhang. Immer gibt es etwas vor den geschilderten Ereignissen, es sei denn, wir wollten jedes Mal mit ›URKNALL! Expansion! Sssssssss …‹ beginnen und alles auflisten, was danach im Universum geschah, bevor wir endlich unser eigentliches Thema in Angriff nähmen. Und auch kein Ende ist endgültig, es wäre denn das Ende aller Dinge …
Dennoch habe ich eine Geschichte zu erzählen. Meine eigene Rolle darin war so verschwindend gering, dass ich mir nicht anmaße, mich mit einem eigenen Namen einzuführen. Immerhin war ich dabei, als alles begann, und durfte einen dieser willkürlichen Anfänge miterleben.
Man sagt, aus der Luft betrachtet schmiege sich das Herbsthaus wie eine riesige graurosa Schneeflocke an die welligen grünen Hänge. Es liegt auf der langen, flachen Geländestufe, mit der die Nördliche Tropische Hochebene nach Süden hin abschließt. An der Nordseite des Hauses breiten sich die verschiedenen klassischen Gartenanlagen und die Bauerngärten aus, deren Pflege mir Pflicht und Freude zugleich ist. etwas weiter oben erhebt sich eine ausgedehnte Tempelruine, angeblich von einer Spezies namens Rehliden erbaut (6ar, stark dezimiert oder ausgestorben, je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenken will). Auf jeden Fall haben sie diese Gegend längst verlassen.)
Die mächtigen weißen Säulen des Tempels ragten einst an die hundert Meter hoch in unsere dünne Luft, doch nun liegen die Kolosse mit ihren Kanneluren und Streifen auf dem Boden oder sind zur Hälfte im torfigen Erdreich der naturbelassenen Landschaft versunken. Die oberen Enden – der langsame Sturz bei halber Standardschwerkraft muss ein eindrucksvolles Schauspiel gewesen sein – schlugen tiefe Krater in die Erde und warfen lange, wulstige Wälle auf. Diese hohen Dämme wurden in den Jahrtausenden seit ihrer plötzlichen Entstehung durch Erosion und durch die vielen kleinen Erdbeben auf unserer Welt langsam abgetragen, so dass die Erde zurückrutschen und die breiten Gräben um die Säulenenden wieder auffüllen konnte. Nun weist das Gelände nur noch eine Reihe von sanften Wellen auf, eine Serie von flachen Tälern, aus denen die frei liegenden Säulenteile bleich hervorragen, als wären es die blanken Knochen unseres kleinen Planetenmondes.
Eine Säule war quer über ein flaches Flusstal gerollt und bildet nun einen schrägen, zylinderförmigen Damm. Das Wasser fängt sich in einer der metertiefen Zierrillen, die sich über die ganze Länge ziehen, fließt hinab zum kunstvoll gestalteten Kapitell und stürzt in vielen hübschen Katarakten in einen tiefen Teich gleich unterhalb der hohen, dichten Hecken an der oberen Grenze unseres Parks. Hier wird es gefasst und weitergeleitet. Ein Teil gelangt in eine große Zisterne, aus der die Springbrunnen vor dem Haus gespeist werden. Der Rest fließt in den Bach, der über Stufen und Schwellen in vielen Windungen zu den Zierteichen und dem Halbgraben führt, der das eigentliche Haus umgibt.
Ich stand inmitten von triefend nassen Exer-Rhododenronzweigen und Schlinggewächsen unterhalb einer steilen Stufe bis über die Hüften im plätschernden Wasser, spreizte mich mit drei Gliedmaßen ein, um nicht von der Strömung fortgerissen zu werden, und stutzte ein besonders störrisches Moilgestrüpp am Rand einer höher gelegenen und mit ziemlich kümmerlichem Scalpygras bewachsenen Wiese – ein an sich lobenswerter, aber gescheiterter Versuch, diese bekanntlich besonders klumpige Grassorte anzusiedeln … ach, ich schweife ab, ich darf mich nicht hinreißen lassen, das Scalpygras tut nichts zur Sache – als der junge Herr pfeifend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, von seinem Morgenspaziergang durch die oberen Steingärten zurückkam. er blieb über mir auf dem Kiesweg stehen und lächelte zu mir herunter. Ich drehte den Kopf, ohne mit dem Schneiden aufzuhören, schaute nach oben und nickte so gemessen, wie es mir in dieser unbequemen Haltung möglich war.
Von dem violetten Himmelsstreifen, der im Osten über dem gewölbten Horizont (Berge im Dunst) und unter Nasquerons gewaltiger Masse sichtbar war, strömte Sonnenlicht herab. Der Gasriese (ein Flickenteppich in allen Farben des Spektrums unterhalb von Hellgelb, vielfach gesprenkelt und über und über mit mehr oder weniger breiten Streifen aus zerfließenden Schnörkeln bedeckt) füllte fast den ganzen Himmel aus. Ein stationärer Spiegel, der fast genau im Zenith stand, warf eine scharfe gelbweiße Linie auf Nasquerons größten Sturmflecken, der, groß wie tausend Monde und schwerfällig wie ein bräunlich oranger Bluterguss über uns hinwegzog.
»Guten Morgen, Obergärtner.«
»Guten Morgen, Seher Taak.«
»Wie steht es um unsere Gärten?«
»Im Großen und Ganzen alles gesund, würde ich sagen. In guter Verfassung für den Frühling.« Natürlich hätte ich eine sehr viel detailliertere Beschreibung liefern können, aber noch wusste ich nicht, ob Seher Taak nicht nur Konversation machen wollte. Er deutete mit dem Kopf auf das Wasser, das meine unteren Gliedmaßen umspülte.
»Alles in Ordnung, OG? Das sieht gefährlich aus.«
»Ich bin gut verankert und habe einen festen Stand, Seher Taak, vielen Dank.« Ich zögerte (in diesem Moment hörte ich weiter unten im Park eine kleine, leichte Person die Steinstufen zum Kiesweg heraufspringen), und als mich Seher Taak auch weiterhin ermunternd anlächelte, fügte ich hinzu: »Die Strömung ist so stark, weil unten die Pumpen eingeschaltet sind und das Wasser zurückführen. Wir wollen einen der Seen von Schlingpflanzen säubern.« (Zwanzig Meter von uns entfernt erreichte die kleine Person den unbefestigten Weg, man hörte unter ihren Füßen die Steinchen aufspritzen.)
»Ich verstehe. Ich dachte mir doch, dass es in letzter Zeit nicht so viel geregnet hat.« Er nickte. »Gute Arbeit, Obergärtner, weiter so.« Er wandte sich zum Gehen und sah, wer da auf ihn zugelaufen kam. Ich schloss aus dem Geräusch, dass es sich um die kleine Zab handelte. Zab ist noch in dem Alter, in dem sie ganz selbstverständlich von einem Ort zum anderen läuft, wenn kein Erwachsener da ist, der es ihr verbietet. Dennoch glaubte ich im Rhythmus ihrer Schritte mehr Ungeduld als gewöhnlich zu hören. Seher Taak lächelte das Mädchen an und runzelte zugleich die Stirn, als sie vor ihm über den Kies schlitterte und zum Stehen kam. Die Kleine legte eine Hand auf den Latz ihrer gelben Hose, beugte sich vor, um zweimal übertrieben tief Luft zu holen – wobei die langen rosaroten Locken ihr Gesichtchen umtanzten –, richtete sich dann mit einem noch tieferen Atemzug auf und erklärte:
»Onkel Fassin! Großvater Slovius sagt, du bist wieder einmal aus den reichen Weiten, und wenn ich dich sehe, soll ich dir ausrichten, dass du sofort auf der Stelle zu ihm kommen sollst!«
»Tatsächlich?«, erwiderte Seher Taak lachend. Er bückte sich, fasste die Kleine unter den Schultern und hob sie hoch, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem seinen war und ihre rosaroten Stiefelchen vor dem Bund seiner Kniehosen baumelten.
»Genau das hat er gesagt«, bekräftigte sie leicht gekränkt. Dann wanderte ihr Blick nach unten, und sie entdeckte mich. »Ach, OG, hallo!«
»Guten Morgen, Zab.«
»In diesem Fall«, sagte Seher Taak, hob das Kind noch höher, drehte es um und setzte es auf seine Schultern, »sollten wir schleunigst nachsehen, was der alte Herr von uns will.« Er ging auf das Haus zu. »Sitzt du auch fest da oben?«
Sie legte ihm die Hände auf die Stirn und sagte: »Klar doch!«
»Und pass diesmal auf die Äste auf.«