»ILEN!« schrie Taince, so laut sie konnte. Fassin zuckte zusammen und hoffte, dass es niemand bemerkt hatte.
»… Hier drüben!«, drang Ilens Stimme ganz schwach aus den Tiefen des Wracks.
»Entfernung von der Truppe!«, rief Sal in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatten. »Keine gute Idee! Aufs Schärfste zu verurteilen! Empfehle sofortige Rückkehr.«
»Pinkeln in Peer-Group problematisch«, kam die Antwort. »Schamhafte-Blase-Syndrom. Nach Erleichterung sofortige Rückkehr. Und jetzt rede normal, sonst sagt Len zu Tain, sie soll Sal Auge ausstechen.
Taince grinste. Fassin musste sich abwenden. Manchmal, in Augenblicken wie diesem, wenn man es am wenigsten erwartete, überraschte ihn Ilen, die sonst fast eigensinnig auf ihrer ganz und gar ungerechtfertigen Schüchternheit und Unsicherheit beharrte, mit solchen Äußerungen oder Verhaltensweisen. Sein Inneres krampfte sich zusammen. Komm bloß nicht auf die Idee, dich in sie zu verlieben, dachte er. Das wäre nun wirklich unerträglich.
Sal lachte. Im Infrarotmodus erschien in fünfzig Metern Entfernung ein Ilen-förmiger Klecks. Sie kauerte mit gesenktem Kopf wie ein flacher Hügel über einer Falte im gerillten Untergrund. »Da. Alles in Ordnung«, verkündete Sal, als hätte er sie persönlich gerettet.
Gleich darauf kam Ilen zurück und blinzelte ins weiche Scheinwerferlicht. Ihr weißblondes Haar glänzte. Sie nickte den anderen zu. »’n Abend«, sagte sie und grinste.
»Willkommen daheim«, sagte Sal. Dann zog er ein Bündel aus einem Gepäckfach und schwang es sich auf den Rücken.
Taince betrachtete das Bündel, dann funkelte sie ihn empört an. »Was zur Hölle hast du vor?«
Sal machte ein unschuldiges Gesicht. »Ich will mich nur ein wenig umsehen. Du kannst mich ja begleiten, wenn …«
»Kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Tain, mein Kind«, entgegnete er lachend. »Seit wann brauche ich deine Erlaubnis?«
»Ich bin kein verdammtes Kind, und ja, verdammt, du brauchst sie.«
»Könntest du dich bitte bemühen, etwas weniger zu fluchen? Du brauchst wirklich nicht so penetrant mit deiner neu erworbenen militärischen Ruppigkeit zu prahlen.«
»Wir bleiben hier«, sagte sie wieder mit dieser kalten Stimme. »Dicht beim Flieger. Wir streunen nicht einfach mitten in der Nacht in einem Alien-Wrack herum, das obendrein gesperrt ist, während über uns ein feindliches Schiff herumfliegt.«
»Und wieso nicht?«, protestierte Sal. »Das Beyonder-Schiff ist inzwischen wahrscheinlich auf der anderen Seite des Planeten oder sogar schon zerstört. Und außerdem, falls dieses Schiff, der Kampfsatellit, die Drohne, was immer es auch sein mag, bis hierher sehen kann, woran ich ernsthaft zweifle, wird es eher den Flieger aufs Korn nehmen als ein paar menschliche Warmblüter, deshalb sind wir sicherer, wenn wir nicht bei der Maschine sind.«
»Man bleibt immer bei seiner Maschine«, sagte Taince und schob das Kinn vor.
»Und wie lange?«, fragte Sal. »Wie lange dauern solche Störattacken, solche Kleinangriffe denn gewöhnlich?« Taince sah ihn nur wütend an. Sal beantwortete seine Frage selbst. »Im Durchschnitt einen halben Tag. In diesem Fall wahrscheinlich bis morgen früh. Wir sind mittlerweile an einem Ort, wo normalerweise nie jemand hinkommt, es ist nicht unsere Schuld, und wir müssen irgendwie die Zeit totschlagen … warum ›zum Teufel‹ sollten wir uns nicht umsehen?«
»Weil es sich um Sperrgebiet handelt«, sagte Taince. »Deshalb.«
Fassin und Ilen wechselten amüsierte Blicke, obwohl ihnen die Sache nicht mehr geheuer war.
»Taince!«, sagte Sal und wedelte mit den Armen. »Leben heißt, etwas riskieren. So ist das nun einmal. Nun stell dich nicht so an.«
»Man bleibt bei der Maschine«, wiederholte Taince grimmig.
»Könntest du dich für eine Sekunde von deiner Programmierung befreien?«, fragte Sal. Das klang aufrichtig verärgert. Er sah die beiden anderen Hilfe suchend an.»Könnt ihr euch irgendeinen vernünftigen Grund vorstellen, warum dieses Wrack überhaupt zum Sperrgebiet erklärt wurde, wenn man von der Überreaktion einiger autoritärer Bürokraten und schwachsinniger Militaristen absieht, die meinten, ihr Revier markieren zu müssen?«
»Vielleicht wissen sie mehr als wir«, sagte Taince.
»Nun komm schon!«, protestierte Sal. »Das behaupten sie doch immer!«
»Hör zu«, sagte Taince ruhig. »Ich räume ein, es ist wahrscheinlicher, dass der feindliche Angreifer die Systeme des Fliegers aufs Korn nimmt. Deshalb erkläre ich mich bereit, stündlich zur vollen Stunde so weit in Richtung auf den Riss im Rumpf zurückzugehen, dass ein Funkspruch gesendet werden kann. Wenn die Subsatelliten wieder funktionieren, kann ich mich erkundigen, ob die Gefahr noch besteht.«
»Schön«, sagte Sal, der in einem anderen Gepäckfach des Fliegers wühlte. »Lass dich nicht aufhalten. Für mich ist dies eine einmalige Gelegenheit, mich in diesem unglaublich faszinierenden Alien-Artefakt umzusehen, und ich werde sie mir nicht entgehen lassen. wenn du grässliche Schreie hörst, dann bin ich soeben einem schrecklichen Monster aus dem Weltall in die Klauen, die Saugnäpfe oder … den Schnabel gefallen, das von jedem einzelnen Bergungsteam übersehen wurde und sich nun genau diesen Abend in den letzten siebentausend Jahren aussucht, um mit knurrendem Magen aufzuwachen.«
Taince holte tief Luft, trat einen Schritt zurück und sagte: »Gut, dann liegt hier wohl ein Notstand vor.« Sie ließ eine Hand in der schwarzen Kombination verschwinden und brachte einen kleinen dunkelgrauen Gegenstand zum Vorschein.
Sal sah sie ungläubig an.»Was ›zum Teufel‹ ist das denn? Eine Waffe? Du willst doch wohl nicht auf mich schießen, taince?«
Sie schüttelte den Kopf und drückte mit dem Daumen seitlich auf den grauen Zylinder. Stille trat ein, dann runzelte Taince die Stirn und sah sich das Ding in ihrer Hand genauer an. »Tatsächlich«, sagte sie, »kann ich dir im Moment nicht einmal mit einer Anzeige bei den örtlichen Sicherheitskräften drohen, jedenfalls nicht in Echtzeit.« Sal atmete auf, zog aber nicht heraus, was immer er in dem Fach gesucht hatte. taince schüttelte den Kopf und warf einen Blick durch die schwarze Höhle des riesigen Raumschiffs. Dann hielt sie das kleine graue Ding in die Höhe und zeigte es den anderen. »Mit diesem Baby«, sagte sie, »müsste ich ein Loch in eine Kinderwindel auf der anderen Seite des Planeten schießen können, aber es sucht immer noch nach kosmischer Strahlung.« Das klang weder verlegen noch wütend, sondern eher ratlos. (Fassin hätte sich an ihrer Stelle zu Tode geschämt und das auch nicht verbergen können.) Taince nickte. Ihr Blick blieb nach oben gerichtet. »Beeindruckend.« Damit steckte sie die kleine Pistole wieder ein.
Sal räusperte sich. »Taince, hast du nun eine Waffe oder nicht? Ich will nämlich eine aus diesem Fach ziehen, und du hast eben so schießwütig ausgesehen, dass du mich erschreckt hast.«
»Ja, ich habe eine Waffe«, sagte sie. »Aber ich verspreche dir, dich nicht zu erschießen.« Ihr Lächeln kam nicht von Herzen. »Und wenn du so versessen darauf bist, noch weiter in dieses Ding hineinzurennen, werde ich auch nicht versuchen, dich aufzuhalten. Du bist jetzt schon ein großer Junge und kannst selbst auf dich aufpassen.«
»Na endlich«, sagte Sal zufrieden, zog aus dem Fach eine schlichte Kompressionspistole, mit der aber wohl nicht zu spaßen war, und befestigte sie an seinem Gürtel. »In den Fächern am Heck findet ihr Lebensmittel und Wasser, Schlafsäcke, Ersatzkleidung und so weiter«, verkündete er und heftete sich zwei selbstleuchtende Klappen an die Schultern seiner Jacke. »Morgen früh bin ich wieder zurück.« Er klopfte ein paarmal auf seinen Ohrknopf, dann lächelte er. »Gut, die innere Uhr stimmt noch.« Er schaute in die Runde. »He, wahrscheinlich gibt es gar nichts zu sehen; vielleicht bin ich schon in einer Stunde wieder da.« Die anderen sahen ihn nur an. »Sonst möchte wohl niemand mitkommen?«, fragte er dann. Ilen und Fassin wechselten einen Blick. Taince beobachtete Sal. Der sagte: »Geht inzwischen ruhig schlafen«, und wandte sich zum Gehen.