»Die Ocula?«, sagte Fassin. »Ich? Bist du da ganz sicher?«
»Absolut.
Streng genommen hatte er keine Wahl. Die Seher mussten, um ihre Tätigkeit ausüben zu können, offiziell als eigener Berufsstand innerhalb des Miszellariats anerkannt sein. Unter den Sammelbegriff Miszellariat fielen alle Gruppen, die der Merkatoria nützlich waren, aber nicht in eine der gängigeren Unterkategorien passten. Somit waren alle Seher der Merkatoria in vollem Ausmaß disziplinarisch unterstellt und hatten allen Anweisungen von übergeordneten und mit der erforderlichen Autorität ausgestatteten Instanzen zu gehorchen.
Praktisch kamen sie allerdings nie in eine solche Situation. Fassin konnte sich nicht erinnern, dass in der zweitausendjährigen Geschichte des Sept Bantrabal jemals ein Mitglied dieses Sept in Friedenszeiten irgendwohin abkommandiert worden wäre. warum also jetzt? Und warum gerade er?
»Kann die Einweisung fortgesetzt werden?«, fragte die leuchtende Kugel. »Die Sache ist wichtig.«
»Das mag schon sein, aber ich habe noch Fragen.«
»Sachdienliche Fragen werden beantwortet, soweit das möglich und ratsam ist«, erklärte die Kugel.
Fassin überlegte angestrengt. Musste er sich das wirklich gefallen lassen? Was hätte er zu erwarten, wenn er nicht gehorchte? Würde man ihn degradieren? Ihn zwingen, auf sein Amt zu verzichten? Ihn in die Verbannung schicken? Für vogelfrei erklären? Zum Tode verurteilen?
»Fassen wir zusammen«, sagte die Gaskugel. »Seher Fassin Taak, sie werden hiermit zur Ocula der Justitiarität abkommandiert. Was die Geheimhaltungsstufe angeht, werden Sie ehrenhalber zum kommissarischen Stellvertreter eines Captain befördert, vom Dienstalter und der disziplinarischen Stellung her sind Sie Major, Sie erhalten die Besoldung eines Generals und die Reiseprivilegien eines Feldmarschalls. Dieses Konstrukt ist in diesen Punkten zu keinerlei Zugeständnissen ermächtigt. Werden Sie die Bedingungen akzeptieren?«
»Und wenn ich nein sage?«
»Haben Sie mit Strafmaßnahmen zu rechnen, die sich auf jeden Fall gegen Sie persönlich, wahrscheinlich gegen den Sept Bantrabal und möglicherweise gegen die ›Langsamen‹-Seher von ’glantine in ihrer Gesamtheit richten. Werden Sie die dargelegten Konditionen akzeptieren?«
Fassin hielt wohl oder übel den Mund. Diese schwebende Leuchtgasblase hatte soeben nicht nur ihn, nicht nur seinen Sept und die ganze Sippe mit allen Angehörigen und Dienern bedroht, sondern auch das größte und unersetzliche Zentrum der Dweller-Forschung auf dem gesamten Planetenmond und eines der drei oder vier bedeutendsten in der gesamten Galaxis! Das war so unerhört, so heillos übertrieben, dass es eigentlich nur ein Scherz sein konnte. Fassin bemühte sich verzweifelt, im Rückblick alles, was er heute mit Slovius, verpych und den anderen erlebt hatte, die sich an einem solchen Scherz beteiligt haben müssten, zu einem Szenario zusammenzufügen, das überzeugender wäre als das, womit er soeben konfrontiert wurde. Es konnte doch nicht sein, dass ihn eine Projektion von so erschreckend hohem Rang, entsandt von einem Portalträgerschiff, das noch ein Dutzend Lichtjahre entfernt war, kurzerhand zu einem Geheimdienst abkommandierte. Einem angeblich allmächtigen Geheimdienst, der die geballte Macht der Administrata und der Techniker hinter sich wusste und nur einem Orden und einer Wissenschaft Rechenschaft schuldig war, von der er nicht mehr verstand als jeder Laie.
»Werden Sie Ihre Abkommandierung zu den oben genannten Bedingungen akzeptieren?«, wiederholte die Kugel.
Vielleicht, dachte Fassin, richtete sich der Scherz auch gegen den Sept Bantrabal als Ganzes. Vielleicht wusste hier im Herbsthaus niemand, dass es sich um einen Schabernack handelte. Aber wer würde so viel Aufwand betreiben, nur um ihn zu erschrecken und wie einen armen Tropf aussehen zu lassen? Wann könnte er sich wohl jemanden zum Feind gemacht haben, der über die Mittel verfügte, ein solches Schauspiel zu inszenieren? Nun ja …
»Werden Sie Ihre Abkommandierung zu den oben genannten Bedingungen akzeptieren?«, fragte die Kugel noch einmal.
Fassin gab auf. wenn er Glück hatte, war die ganze Sache ein Scherz. wenn nicht, wäre es dumm und womöglich gefährlich, sie als solchen zu behandeln.
»Angesichts deiner unverzeihlich plumpen Drohungen habe ich wohl kaum eine andere Wahl.«
»Sollte das eine positive Antwort sein?«
»So könnte man es nennen.«
»Gut. Sie können nun Fragen stellen, Seher Fassin Taak.«
»Warum werde ich abkommandiert?«
»Damit Sie die Aufgaben, die man Ihnen stellen wird, leichter erfüllen und die Ziele, die Sie anzustreben haben, besser erreichen können.«
»Und was verlangt man von mir?«
»Zunächst haben Sie Anweisung, nach Pirrintipiti, der Hauptstadt des Planetenmondes ’glantine zu reisen und ein Schiff nach Borquille zu besteigen, der Hauptstadt von Sepekte, dem Hauptplaneten des Ulubis-Systems. Dort werden Sie weitere Instruktionen erhalten.«
»Und danach?«
»Danach wird man Ihnen, wie eben schon dargelegt, gewisse Aufgaben stellen und Sie verpflichten, gewisse Ziele zu verfolgen.«
»Aber warum? Was steckt dahinter? Worum geht es bei alledem?«
»Dazu enthält dieses Konstrukt keine Informationen.«
»Und warum gerade die Ocula der Justitiarität?«
»Dazu enthält dieses Konstrukt keine Informationen.«
»Wer hat das angeordnet?«
»Dazu enthält dieses Konstrukt …«
»Schon gut!« Fassin trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Stuhls. Die Projektion musste doch von irgendwoher ihre Vollmachten erhalten haben. Sie musste wissen, wo sie im weit gespannten Netz der merkatorialen Hierarchie mit ihren zahllosen Dienstgraden stand. »Welchen Rang hatte die Person, die diesen Befehl erteilt hat?«
»In der Administrata: Stabschef der Armeegruppe der Justitiarität«, antwortete die Kugel. (Also von ganz oben, dachte Fassin. Ob das nun ein dummer Scherz sein sollte, eine Schwachsinnsidee des Militärs oder einfach eine völlig überflüssige Aktion, die Genehmigung dafür kam von jemandem, der nicht behaupten konnte, es nicht besser zu wissen.) »In der Hohen Kommandantur: Leitender Techniker«, fuhr die Projektion fort. (Dito; Leitender Techniker klang nicht so großartig und einschüchternd wie etwa Stabschef der Armeegruppe, aber es war der höchste Rang bei den Technikern, jener Kaste, die verantwortlich zeichnete für die Entwicklung, die Beförderung und die Installierung der Wurmlöcher, von denen die ganze galaktische Metazivilisation zusammengehalten wurde. Was seine Macht anging, war ein LT wahrscheinlich in jeder Spezies einem Stabschef überlegen.) »In der Omnokratie«, erklärte die Kugel abschließend, »Komplektor«.
Fassin riss die Augen auf und blinzelte ein paarmal. Als er merkte, dass ihm der Mund offen stand, machte er ihn rasch zu. er bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Ein verdammter Komplektor?, dachte er. Der Befehl kommt von einem Angehörigen der Culmina?
Die Komplektoren bildeten klar und unumstritten die Spitze der zivilen Hierarchie der Merkatoria. Jeder Komplektor war absoluter Herrscher über einen großen und im Allgemeinen geografisch klar definierten Bereich der Galaxis wie etwa einen Sternencluster oder sogar einen kleineren oder größeren Galaxisarm. Noch dem Unbedeutendsten aus dieser Gruppe waren Hunderttausende von Sonnen, Millionen von Planeten, Milliarden von Habitaten und Billiarden von Seelen unterstellt. Komplektoren standen über der Administrata, sie hatten Weisungsbefugnis gegenüber den Leitern aller anderen Abteilungen der Hohen Kommandantur innerhalb ihrer Zuständigkeit – Techniker, Propylaea, Navarchie und Generalflotte – und sie gehörten immer der Culmina an. Über einem Komplektor gab es lediglich andere Komplektoren, die noch mehr zu sagen hatten.