»Pass du auf die Äste auf!«, sagte Zab und fuhr Seher Taak mit den Fingern durch die braunen Locken. Dann drehte sie sich um und winkte mir zu. »Wiedersehen, OG!«
»Auf Wiedersehen«, rief ich ihnen nach. Sie näherten sich bereits der Treppe.
»Nein, du musst auf die Äste aufpassen, kleines Fräulein!«
»Nein, du musst auf die Äste aufpassen!«
»Nein, du musst auf die Äste aufpassen!«
»Nein, du musst auf die Äste aufpassen.«
»Nein, du musst auf die Äste aufpassen …«
EINS
Im Herbsthaus
Es hatte sich hier draußen in Sicherheit gewähnt. Schließlich war es nur einer von vielen tief gefrorenen schwarzen Punkten in dem riesigen Schleier aus Eisschutt, der die Grenzbereiche des Systems wie ein dünnes Leichentuch umhüllte. Aber es hatte sich getäuscht. von Sicherheit konnte keine Rede sein.
Es drehte sich langsam um sich selbst und beobachtete hilflos, wie die Suchstrahlen in weiter Ferne über die zernarbten, kahlen Partikel glitten. Sein Schicksal war besiegelt. Die Fühler aus kohärentem Licht waren so schnell, dass sie kaum zu spüren waren, und so trügerisch zaghaft, dass sie nicht ins Bewusstsein drangen. Die Strahlen berührten nur flüchtig und erhellten kaum, erfüllten aber ihren Zweck, indem sie nichts fanden, wo es nichts zu finden gab. Nur Kohlenstoff, Spurenelemente und steinhart gefrorenes Wasser: uralt, tot und – wenn man sich nicht daran zu schaffen machte – für niemanden bedrohlich.
Jedes Mal, wenn die Laser weiterglitten, keimte neue Hoffnung auf, und es dachte wider alle Vernunft, die Verfolger würden aufgeben, würden einfach kapitulieren, und es könnte in Ruhe für immer seine Bahnen ziehen. oder aus dem Orbit ausbrechen und, für alle Zeiten in die Einsamkeit verbannt, mit weniger als Lichtgeschwindigkeit durch das All bummeln. Oder seine Systeme abschalten und in Schlaf sinken oder … Vermutlich könnte es auch – und das war es natürlich, was die Verfolger fürchteten und warum sie die Jagd fortsetzten – Intrigen spinnen, Reserven mobilisieren, vorbereitungen treffen, beschleunigen, bauen, kopieren, rekrutieren und schließlich – angreifen! … Die Rache üben, die ihm so eindeutig zustand, von allen seinen Feinden den Preis einfordern, den sie – wenn es unter irgendeiner Sonne noch so etwas wie Gerechtigkeit gab – für ihre Intoleranz, ihre Grausamkeit und ihren Generationenmord zu entrichten hatten.
Doch dann kamen die Nadelstrahlen wieder und erleuchteten zitternd die Pockennarben eines weiteren schwarzen Klumpens aus Eis und Ruß, aus mehr oder weniger großer Entfernung, aber immer rasch und peinlich ordentlich, mit militärischer Präzision und einer sturen, bürokratischen Systematik.
Den ersten Lichtspuren nach zu schließen, waren es mindestens drei Schiffe. Wie viele mochten es tatsächlich sein? Wie viele mochten sie für die Suche abgestellt haben? Eigentlich spielte es keine Rolle, ob sie einen Augenblick, einen Monat oder ein Jahrtausend brauchten, um die Beute aufzuspüren. Sie wussten offensichtlich, wo sie zu suchen hatten, und sie würden nicht aufgeben, bis sie es gefunden hatten, oder bis sie überzeugt waren, dass es nichts zu finden gab.
Dass es so unverkennbar in Gefahr schwebte, und dass sein Versteck bei aller Größe fast der erste Ort war, an dem die Schiffe ihre Suche begonnen hatten, erfüllte es mit Schrecken. Und das nicht nur, weil es nicht sterben oder zerlegt werden wollte, wie es anderen Opfern wie ihm widerfahren war, bevor sie vollends vernichtet wurden. wenn es an diesem Ort, wo es sich so sicher gefühlt hatte, nicht sicher war, dann gälte das auch für so viele andere seinesgleichen, die von der gleichen Voraussetzung ausgegangen waren.
Gütige Vernunft, womöglich gibt es nirgendwo mehr Sicherheit für uns.
Alle seine Forschungen, seine Überlegungen, all die großartigen Entwicklungen, die Veränderungen, die Früchte jener einen großen Erkenntnis, zu der es nun nicht mehr gelangen, die ihm nicht mehr beschieden sein würde und die es nicht mehr weitergeben konnte, alles, alles war umsonst gewesen. Es hatte noch die Wahl, mit oder ohne eine gewisse Würde abzutreten, aber abtreten musste es.
Es konnte dem Tod nicht entrinnen.
In eisigen Fernen schalteten die Nadelschiffe ihre Nadelstrahlen an und wieder aus, und nun entdeckte es endlich das Muster, es konnte die Szintillationsfolgen der einzelnen Schiffe unterscheiden, konnte die Form der Suchraster bestimmen und durfte dennoch nur hilflos zusehen, wie sich der Fächer langsam ausbreitete und die tödlichen Verfolger unaufhaltsam näher kamen.
Der Archimandrit Lusiferus, Kampfpriester des Hungerleider-Kults von Leseum9IV, der wahre Herr über einhundertsiebzehn Sonnensysteme, etwa vierzig bewohnte Planeten, zahlreiche größere immobile Habitate und viele Hunderttausende von zivilen Großkampfschiffen, befehligte als Großadmiral das Schutzgeschwader der Vierhundertachtundsechzigsten Außenflotte (auf Sondereinsatz). Vor dem jüngsten noch andauernden Chaos und den letzten Ausläufern der Separations-Kaskade hatte er im Auftrag des Rotierenden Triumvirats des Clusters Epiphanie Fünf Menschen und Nichthumanoide im Obersten Galaktischen Rat vertreten. Vor einigen Jahren hatte man auf seinen Befehl den Kopf seines ehemals größten Widersachers, des Rebellenhäuptlings Stinausin, von dessen Schultern getrennt, unverzüglich an ein permanentes Lebenserhaltungssystem angeschlossen und mit dem Hals nach oben an die Decke von Lusiferus’ repräsentativem, in die Außenmauer der Felsenzitadelle eingelassenen Arbeitszimmer gehängt, das eine so grandiose Aussicht über Junch City und die Faraby-Bucht bis hinüber zu den schroffen, nebelverhangenen Wänden der Force-Schlucht bot. Nun konnte der Archimandrit, so oft ihm danach zumute war – und das kam ziemlich häufig vor – den Kopf seines alten Feindes wie einen Punchingball bearbeiten.
Lusiferus hatte langes, glattes, glänzend schwarzes Haar, und sein von Natur aus blasser Teint war nach allen Regeln der Kunst so verändert worden, dass die Haut nahezu rein weiß leuchtete. Die Augen hatte man künstlich vergrößert, war aber dabei so nahe am von Natur aus Möglichen geblieben, dass niemand sicher sein konnte, ob tatsächlich eine Manipulation vorlag. Das Weiße um die schwarze Iris leuchtete tief rot, und sämtliche Zähne waren sorgfältig durch lupenreine Diamanten ersetzt worden, so dass sein Mund je nach Lichteinfall bizarr und zahnlos aussah wie bei einem Primitiven aus dem Mittelalter oder ein wahres Feuerwerk versprühte.
Bei einem Straßenkünstler oder Schauspieler hätte man solche physiologischen Kapriolen als komisch, vielleicht sogar leicht verwegen empfunden. Bei einem Mann, der so viel Macht besaß wie Lusiferus, wirkten sie dagegen tief beunruhigend, ja erschreckend. auch sein Name war zu gleichen Teilen geschmacklos und grauenerregend. Er trug ihn nicht von Geburt an, sondern hatte ihn selbst ausgewählt, weil er vom Klang her an eine von jeher verachtete irdische Gottheit erinnerte, von der die meisten Menschen – zumindest die meisten r-Menschen – irgendwann im Geschichtsunterricht gehört hatten, auch wenn sie wahrscheinlich nicht mehr genau sagen konnten, in welchem Zusammenhang.
Dank weiterer genetischer Manipulationen war der Archimandrit schon seit langem hoch gewachsen und gut gebaut und verfügte über beachtliche Kräfte in Armen und Schultern. Wenn er also im Zorn zuschlug – und wenn er zuschlug, geschah es fast immer im Zorn – war die Wirkung ungeheuer. Der Rebellenführer, dessen Kopf jetzt von Lusiferus’ Decke hing, hatte dem Archimandriten militärisch und politisch große Schwierigkeiten bereitet, bevor er endlich besiegt worden war, Schwierigkeiten, die bisweilen schon an Demütigungen grenzten, und Lusiferus empfand noch immer einen abgrundtiefen Groll gegen den Verräter. Dieser Groll schlug leicht und zuverlässig in blinden Zorn um, sobald er in das Gesicht des Mannes schaute, auch wenn es noch so blau geschlagen und blutig war (die künstlich verstärkten Selbstheilungskräfte des Kopfes arbeiteten schnell, aber nicht ohne gewisse Verzögerungen). Und so prügelte der Archimandrit wahrscheinlich immer noch mit der gleichen Begeisterung auf Stinausins Kopf ein wie vor Jahren, als er ihn erstmals in diesem Raum hatte aufhängen lassen.