»Aber wir haben gelernt …«
»Dass ihre Bibliotheken die chaotischsten in der ganzen Galaxis sind und sie Fremden nur höchst ungern Zugang dazu gewähren? Das ist richtig, aber trotzdem: sie waren schon eine friedfertige, zivilisierte und weit verbreitete Spezies, als es Erde und Sonne noch gar nicht gab. Und was ist die einzige Lektion, was wir mit Begeisterung von ihnen übernehmen? Macht Jagd auf eure Kinder?«
»So steht es in deinen Vorlesungsnotizen«, erinnerte ihn Taince.
Die Dweller waren berüchtigt dafür, dass sie ihre eigenen Jungen jagten. Die Spezies war in der Mehrheit – der überwiegenden Mehrheit – aller Gasriesenplaneten der Galaxis zu finden, und so oft man eine dieser Planeten-Gesellschaften hinreichend gründlich erforscht hatte, war man darauf gestoßen, dass die erwachsenen Dweller einzeln oder im Rudel Jagd auf ihre eigenen Kinder machten. Manchmal nur, wenn sich die Gelegenheit ergab, aber ebenso oft auch über längere Zeiträume in gut organisierten Expeditionen. Für die Dweller war dieses Verhalten ganz natürlich, ein Brauch, den sie seit Jahrmilliarden pflegten, ein integraler Bestandteil ihrer Kultur, ohne den sie nicht sie selbst gewesen wären, eine Phase des Erwachsenwerdens. Wenn sich – selten genug – ein Dweller die Mühe machte, diese Praxis gegenüber fremden Schnöseln zu verteidigen, die glaubten, sich darüber erregen zu müssen, dann erklärte er im Brustton der Überzeugung, die Jagd auf die Jungen sei einer von vielen Gründen, warum die Dweller nach so langer Zeit immer noch nicht ausgestorben wären und sich an diesem harmlosen Spaß erfreuen könnten.
Schließlich sei nicht nur die Spezies als Ganzes uralt; auch einzelne Dweller hätten angeblich eine Lebensspanne von Milliarden von Jahren. Und da selbst die wahrhaft riesigen Lebensräume in allen Gasriesenplaneten der Galaxis (und nicht nur hier, wie bisweilen gemunkelt wurde) nicht unendlich seien, müsste man das Wachstum der Bevölkerung auf irgendeine Weise in Grenzen halten. Naseweise Spezies von außen – besonders solche, deren Zivilisationen so kurzlebig waren, dass man von den ›Schnellen‹ sprach – sollten nicht vergessen, dass die heutigen Jäger früher ihrerseits gejagt worden waren, und dass die heutigen Gejagten durchaus die Jäger der Zukunft werden könnten. Außerdem dauere dieser Abschnitt höchstens etwas mehr als ein Jahrhundert, und das sei für jemanden, der beste Aussichten hatte, Hunderte von Jahrmillionen alt zu werden, nun wirklich eine Bagatelle, kaum der Rede wert.
»Sie spüren keinen Schmerz, Taince«, sagte Fassin. »Das ist der entscheidende Punkt. sie können nicht ganz erfassen, was körperliches Leiden bedeutet. Jedenfalls nicht emotional.«
»Woran ich nach wie vor zu zweifeln wage. Aber selbst wenn? Was willst du damit sagen? Dass sie nicht intelligent genug sind, um seelische Qualen zu empfinden?«
»Selbst seelische Qualen sind nicht wirklich das, was wir darunter verstehen, wenn es kein physiologisches Äquivalent dazu gibt, keine körperliche Schablone, an der sich die Seele orientieren kann, keine Verbindung zwischen den beiden Arten von Schmerz.«
»Ist das die Theorie des Jahres? Das Einmaleins der Exo-Ethik?«
Ein mittleres Erdbeben erschütterte die Mulde, in der das Flugzeug stand, aber sie achteten nicht darauf. Irgendwo hoch über ihnen schwangen die riesigen Bögen aus schillerndem Material sachte hin und her.
»Ich will damit nur sagen, dass wir von dieser Zivilisation sehr viel mehr lernen könnten als nur, unsere Kinder zu misshandeln.«
»Ich denke, die Dweller gelten gar nicht als Zivilisation im strengen Sinn?«
»Du meine Güte«, seufzte Fassin.
»Und?«
»Nun ja, das kommt darauf an, wie du Zivilisation definierst. Die einen halten die Dweller für postzivilisatorisch, weil die einzelnen Gruppen auf jedem Gasriesen kaum Kontakt zueinander pflegen. Andere sprechen von einer Diaspora-Zivilisation, was eigentlich das Gleiche ist, nur etwas vornehmer ausgedrückt. Wieder andere betrachten die Dweller als degeneriert, ein Beispiel dafür, wie eine Spezies eine ganze Galaxis erobern und im letzten Moment doch noch scheitern kann, weil sie einfach keine Lust mehr hat, weil sie vergessen hat, was eigentlich der Zweck der ganzen Übung war, weil sie sich plötzlich ihrer Skrupellosigkeit schämt, weitere Zerstörungen zu vermeiden sucht und es nicht mehr als recht und billig findet, auch anderen eine Chance zu geben, oder weil sie von einer stärkeren Macht eins auf die Finger bekommt. all das könnten natürlich wahre Gründe oder blühender Unsinn sein. Und deshalb betreiben wir Dweller-Forschung. Um vielleicht eines Tages Gewissheit zu bekommen … Was ist?« Er fand die Art, wie Taince ihn ansah, etwas merkwürdig.
»Nichts. Ich dachte nur so. willst du immer noch behaupten, du wüsstest nicht, was du nach dem College machen willst?«
»Es könnte durchaus sein, dass ich kein Seher werde, taince, und nichts mit der Dweller-Forschung zu tun haben will. Niemand zwingt mich dazu. Bei uns gibt es keine Einberufung.«
»Na schön«, sagte sie. »Aber jetzt ist es Zeit für den nächsten Kontaktversuch zur realen Welt.« Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. »Kommst du mit?«
»Was dagegen, wenn ich dableibe?« Fassin rieb sich die Augen und sah sich um. »Ich bin doch ein wenig müde geworden. Glaubst du, dass wir hier halbwegs sicher sind?«
»Schätze schon«, antwortete Taince. »Ich bin bald wieder zurück.« Sie schritt in die Dunkelheit hinein und war bald verschwunden. Nun war Fassin allein im weichen Licht des Fliegers in der riesigen Höhle, in der es kein Echo gab.
Er konnte sich nicht entscheiden, ob er schlafen wollte, und nach einer Weile fühlte er sich doch nicht mehr ganz so sicher. Fast wäre er Taince nachgegangen, aber er wollte sich nicht verirren, und so blieb er, wo er war. Er räusperte sich, setzte sich aufrecht hin und verbot sich einzuschlafen. Irgendwann musste er doch eingedämmert sein, denn er wachte erst auf, als er die Schreie hörte.
Er verließ das Haus in der falschen Dämmerung, die vom Widerschein des Sonnenaufgangs erzeugt wurde. Ulubis stand noch weit unter dem Horizont, erleuchtete aber die Hälfte der ’glantine zugewandten Hemisphäre von Nasqueron und überflutete die Nördliche Tropische Hochebene mit sanftem bräunlich goldenem Licht. Ein kleines Auroraspektakel im Norden steuerte sein zittriges gelbes Leuchten bei. von Freunden und Angehörigen hatte er sich bereits am Abend zuvor verabschiedet, für andere wie seine Mutter, die er nicht persönlich treffen konnte, hatte er Botschaften hinterlassen. Jaal hatte geschlafen, als er ging.
Fassin war ziemlich überrascht, dass Slovius zum Haushafen gekommen war, um ihm Lebewohl zu sagen. Der hundert Meter breite Kreis aus völlig glattem Kaltschmelzgranit befand sich einen Kilometer hangabwärts, nahe am Fluss und am Rand des sanft ansteigenden Hochlandwaldes. Von Westen zogen hohe, dünne Wolken herüber, aus denen ein leichter Regen fiel. auf einem Dreifuß am Rand des Kreises stand, von Dampfschwaden und flimmernder Hitze umwabert, ein schnittiges, rußschwarzes, etwa sechzig Meter langes Navarchieschiff.
Die beiden hielten an und betrachteten es ausgiebig. »Ist das nun ein Nadelschiff?«, fragte Fassin.
Sein Onkel nickte. »Ich denke schon. Du reist durchaus standesgemäß nach Pirrintipiti, Neffe.« Slovius’ eigene Sub-orbjacht, ebenfalls stromlinienförmig, aber etwas gedrungener und etwa halb so groß wie das schwarze Navarchieschiff, stand auf einem runden Parkfeld gleich neben dem Hauptkreis. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Fassin trug unter dem leichten Sept-Umhang einen dünnen einteiligen Druckanzug und kam sich vor, als wäre er von Kopf bis Fuß in warmes Gel gepackt. Fassin hatte den Koffer mit seiner Paradeuniform in einer Hand. Die zweite Tasche trug ein Diener mit Pferdeschwanz, der einen großen Schirm über ihn hielt. Slovius wurde in seiner Sitzwanne von einer transparenten Abdeckhaube geschützt. Ein weiterer Diener hielt Fassins schlafende Nichte Zab in den Armen. Die Kleine – sie hatte irgendwie mitbekommen, dass ihr Onkel nach Sepekte berufen wurde und war am Abend zuvor unverantwortlich lange aufgeblieben – hatte darauf bestanden, sich von Fassin zu verabschieden, und es auch geschafft, ihren Eltern und ihrem Großvater die Erlaubnis dazu abzuschmeicheln, war aber eingeschlafen, sobald alle in der kleinen Seilbahngondel saßen, die zum Hafen fuhr.