Sal sprang auf und geriet dabei gefährlich nahe an den Rand des Lochs. »Wir haben noch ein weiteres Seil«, sagte er plötzlich. Er war immer noch sehr blass, aber jetzt war sein Gesicht fast ausdruckslos. Er drängte sich an Taince vorbei.
Fassin sah ihn an. Er hatte keine Ahnung, worum es ging.
»Was ist?«, fragte Taince. Sie rüttelte an einem quadratischen Stalagmiten, der aus dem Boden ragte, und band die Rucksackriemen daran fest.
»Ein Seil«, sagte Sal, deutete in die Richtung, wo der Flieger stand, und machte einen Schritt nach rückwärts. »In der Maschine ist noch ein Seil. Ich hole es. Ich weiß, wo es ist.« Er ging weiter.
»Sal!«, schrie Taince. »So viel Zeit haben wir nicht!«
»Es wird schon reichen. Ich gehe.« Sal blieb nicht stehen.
»Verdammt, Sal, du läufst jetzt nicht weg«, sagte Taince. Ihre Stimme war leiser und tiefer geworden. Sal zögerte kurz, doch dann schüttelte er den Kopf und rannte los.
Taince sprang auf und wollte ihn festhalten, aber er war zu schnell. Er sprang über einen Stalagmiten und rannte auf den schmalen Spalt zu, durch den Fassin und Taince gekommen waren. Taince beugte ein Knie und zog die Pistole. »Bleib stehen, du verdammter Feigling!«
Vielleicht, dachte Fassin, hätte Taince eine halbe Sekunde Zeit gehabt, um zu schießen, doch als Sal losspurtete, sich in den Spalt zwängte und verschwand, senkte sie die Waffe und steckte sie ein. Dann sah sie Fassin an. Jetzt war ihr Blick leer. »Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte sie und schlüpfte rasch aus der Kombination. Fassin glaubte im ersten Moment, sie sei darunter nackt, aber sie trug einen einteiligen, fleischfarbenen Body. Sie fügte Hose und Jacke der Kombination wieder zusammen und zog daran, um zu sehen, ob die Verbindung hielt. »Gut«, sagte sie. »Das bindest du dir jetzt um den Knöchel.«
Die Riemen am Rucksack gaben nicht nach. Fassin band sie sich um die Handgelenke, traute ihnen aber nicht zu, sein eigenes und Tainces Gewicht zu tragen und hielt sich zunächst mit den Händen an der Kante fest. Auch der Knoten, mit dem er Tainces Hosen an seinem Knöchel befestigt hatte, löste sich nicht. taince konnte ohne Schwierigkeiten zuerst an ihm und dann an ihrer Kombination hinab klettern. Fassin drehte den Kopf so weit wie möglich nach hinten, um sie beobachten und auch Ilen im Auge behalten zu können, so als wäre sie in Sicherheit, solange sie in seinem Blickfeld war. Doch dann bebte die Erde, und das Schiff erzitterte. Der Stoß war nicht allzu stark, aber Fassin brach der kalte Schweiß aus, und Hände, Handflächen und Finger rutschten von der Kante, bis er wirklich nur noch an den Riemen hing. unter ihm, unter Taince und immer noch unerreichbar bewegte sich Ilen ein letztes Mal, bekam das Übergewicht und stürzte in die Dunkelheit hinab.
Taince wollte nach ihr greifen. Fassin spürte, wie ein Ruck durch seinen Knöchel ging. Keuchend und zischend streckte sie sich, um das Mädchen zu fassen, aber vergeblich. Ilen entschwebte langsam in die Schatten, ihr Haar und ihre Kleider flackerten wie helles kaltes Feuer.
Sie war wohl immer noch nicht richtig bei Bewusstsein, denn sie schrie nicht. Die beiden hörten nur, wie ihr Körper endlose Sekunden später tief unten auf den Kühlrippen aufschlug. Vielleicht spürten sie auch den Schlag, der durch das Schiff ging.
Fassin hatte die Augen geschlossen. Sal hat Recht. Das kann nicht wirklich passieren. Er versuchte, den Rand des Loches wieder mit den Händen zu fassen, um die Last von den Riemen zu nehmen.
Taince hing eine Weile reglos unter ihm. »Ich hab’ sie verloren«, sagte sie leise, und es klang so verzweifelt, dass Fassin plötzlich Angst bekam, sie könnte loslassen und sich hinter Ilen in die Tiefe stürzen. Doch dann sagte sie nur: »Ich komme jetzt rauf. Halt dich fest.«
Sie kletterte an ihm nach oben und half ihm aus dem Loch. Ilens Körper war nicht zu sehen. Minutenlang saßen sie schwer atmend nebeneinander, mit dem Rücken an einen der Stalagmiten gelehnt, fast so wie vorher im Flieger. taince knüpfte ihre Kombination auf und zog sie wieder an. Dann nahm sie die Pistole aus der Tasche und stand auf.
Fassin sah die Waffe an. »Was hast du vor?«, fragte er.
Sie schaute auf ihn hinab. »Keine Sorge, ich werde den Dreckskerl nicht erschießen.« Ihre Stimme klang jetzt ruhig. Sie stieß mit der Spitze ihres Stiefels an seinen Fuß. »Wir sollten zurückgehen.«
Er stand auf. Seine Knie zitterten ein wenig, und sie packte seinen Arm und hielt ihn fest. »Wir haben unser Bestes gegeben, Fass«, sagte sie. »Alle beide. Um Ilen können wir später trauern. Jetzt müssen wir zum Flieger zurück. Wir müssen Sal finden, müssen sehen, ob wir Funkkontakt bekommen, und dann müssen wir schleunigst von hier weg und Anzeige erstatten.«
Sie wandten sich von dem Loch ab.
»Warum steckst du die Pistole nicht wieder ein?«, fragte Fassin.
»Wegen Sal«, sagte Taince. »Er ist noch nie so gedemütigt worden. So viel ich weiß, hat er noch nie völlig versagt. trauer und Schuldgefühle, das ginge jedem an die Nieren.« Sie atmete mehrmals rasch ein und hielt dann die Luft an. Wohl eine Atemübung zur Beruhigung. »Es könnte sein, dass er glaubt … wenn niemand je erfährt, was hier passiert ist …« Sie zuckte die Achseln. »Er hat eine Waffe. Ich kann nicht ausschließen, dass er uns angreift.«
Fassin sah sie ungläubig an. »Meinst du? Ernsthaft?«
Taince nickte. »Ich kenne ihn«, sagte sie. »Und wundere dich nicht, wenn der Flieger nicht mehr da ist.«
Der Flieger war nicht mehr da.
Sie gingen zu dem Riss im Rumpf. Der Flieger stand draußen im trüben Licht der falschen Dämmerung. Ein breiter Streifen von Nasqueron wurde bereits von der Sonne beschienen. Sal saß vor der Maschine und schaute über die kalte Wüste. Bevor sie zu ihm gingen, schaltete Taince ihr Funkgerät noch einmal ein und stellte fest, dass sie wieder Empfang hatte. Sie rief die nächste Navarchie-Einheit und setzte einen kurzen Bericht ab. Dann stapften sie durch den Sand zum Flieger. Die Kopfhörer waren immer noch tot.
Als sie näher kamen, drehte sich Saluus um. »Ist sie abgestürzt?« , fragte er.
»Wir hätten sie fast erwischt«, sagte Taince. »Es war ganz knapp.« Sie hatte die Pistole immer noch im Anschlag. Sal hielt sich eine Hand vor die Augen. Mit der anderen umklammerte er ein dünnes, verbogenes und halb geschmolzenes Metallstück. Als er die Hand wieder von den Augen nahm, drehte er dieses Metall mit beiden Händen unaufhörlich hin und her. Seine Waffe lag neben seiner Jacke auf dem Rücksitz. »Ich habe den Stützpunkt erreicht«, sagte Taince. »Der Alarm ist aufgehoben. Wir sollen bleiben, wo wir sind. Ein Schiff ist unterwegs.« Sie stieg in die Maschine und setzte sich auf den Platz hinter dem Piloten.
»Wir hätten sie niemals retten können, tain«, behauptete Sal. »Fass«, wiederholte er, als der junge Mann vorne einstieg und sich neben ihn setzte. »Wir hätten sie wirklich nicht retten können. Wir wären nur selbst dabei draufgegangen.«
»Hast du das Seil gefunden?«, fragte Fassin. Im Geiste nahm er Sal das verbogene Metallstück ab, mit dem er immer noch spielte, und stach ihm damit ein Auge aus.
Sal schüttelte nur den Kopf. Er schien noch nicht wieder klar denken zu können. »Ich bin mit dem Fuß umgeknickt«, sagte er. »Vielleicht habe ich mir den Knöchel verstaucht. Hätte es fast nicht mehr bis zurück geschafft. Ich dachte, ich könnte die Maschine durch das Zeug, das von der Decke hing, und über die Trümmer hinweg dahin zurückfliegen, wo das Unglück passiert war, aber diese Bahnen waren solider, als sie aussahen; also kam ich hier heraus und wollte versuchen, einen Funkspruch abzusetzen.« Er hörte nicht auf, das Metallstück in den Fingern zu drehen.