In der Hierarchie des Systems dachte man auf höchster Ebene darüber nach, ob Ulubis versuchen sollte, ein eigenes Wurmloch und eine Trägerflotte zu bauen, um das eine Ende nach Zenerre zu bringen. Doch abgesehen von den immensen Kosten und der Überlegung, dass man damit – immer vorausgesetzt, ein Portal würde in nicht allzu ferner Zeit die Reise in die Gegenrichtung antreten – viel Zeit und Arbeit verschwenden würde, ohne den Wiederanschluss zu beschleunigen, gab es noch ein zwingendes Gegenargument, das so lange Gültigkeit hatte, bis von Zenerre entweder kein Signal mehr käme oder die Nachricht vom völligen Zusammenbruch der Zivilgesellschaft einträfe: In der Merkatoria war es nur Technikern gestattet, wurmlöcher zu bauen und zu installieren.
Systeme und Herrscher, die es wagten, ohne ausdrückliche Genehmigung ein Wurmlochbauprogramm auch nur zu initiieren, hatten mit harten Sanktionen und Strafen zu rechnen. Und eine solche Genehmigung war im Notstandsplan der Merkatoria für Ulubis nicht vorgesehen.
Den wenigen im All geborgenen Trümmern von Beyonder-Schiffen im Umkreis des Lagrange-Punkts, an dem sich das Portal befunden hatte, ließ sich entnehmen, dass die Zerstörer des Portals jenen drei Gruppen entstammten, die Ulubis und einige der angrenzenden Raumsektoren schon seit tausenden von Jahren bedrängten. Für diese eine Aktion hatten sich die Grenzüberschreiter, die Wahrhaft Freien und die BiAllianz verbündet und waren in so großer Zahl aufgetreten wie nie zuvor. Unruhig, nervös und voller Angst vor dem, was eine Beyonder-Invasion bringen könnte, fielen die Bewohner des Systems in ein Entwicklungsstadium zurück, das eher dem der r-Menschen der Erde vor deren voller Integration in die galaktische Gemeinschaft glich.
Es war eine Binsenweisheit, dass alle Zivilisationen im Grunde so lange neurotisch waren, bis sie die Verbindung zu anderen Mitlebewesen hergestellt und ihren Platz innerhalb der in ständigem Wandel befindlichen Metazivilisation gefunden hatten. Solange die Sologesellschaften aufrichtig daran glaubten, allein im Universum zu sein, neigten sie dazu, ihre eigene Bedeutung zu überschätzen, und wurden zugleich angesichts der schieren Größe und vermeintlichen Leere des Alls von existenziellen Ängsten beherrscht. Doch obwohl die Kultur des Ulubis-Systems wusste, dass der Rest der galaktischen Gemeinschaft – selbst im schlimmsten Fall zumindest in irgendeiner Form – existierte, glitt sie unmerklich in jenen früheren Zustand vor der Aufnahme in diesen Verbund zurück.
Weil man sich durch das Kriegsrecht neuen und ärgerlichen, aber auch seltsam erregenden Einschränkungen unterworfen sah und alle Hände voll zu tun hatte, um mit der plötzlichen Isolation und der jetzt so deutlich spürbaren Verwundbarkeit zu Rande zu kommen, lebte man eher in den Tag hinein und raffte, nur für den Fall, dass es kein Morgen mehr gäbe, alles an Freuden und Genüssen zusammen, was man erhaschen konnte. Es kam nicht zu einem gesellschaftlichen Zusammenbruch, auch nicht zu größeren Unruhen oder Aufständen, aber es gab durchaus Proteste, die radikal niedergeschlagen wurden, und, wie die Regierung später – sehr viel später – eingestand, es wurden Fehler gemacht. Aber das System hielt zusammen und zerfiel nicht, und später sollte so mancher nicht ohne Nostalgie auf diese stürmische Epoche zurückblicken. Es war eine hektische, aber sehr lebendige Zeit, man fand den Anschluss an das Leben wieder, nachdem man von allem anderen getrennt worden war, und so erlebte das Ulubis-Separat, wie es nach und nach genannt wurde, eine innere Erneuerung, die für manchen Beobachter verdächtige Ähnlichkeit mit einer kulturellen Renaissance hatte.
Fassin bekam von der ganzen Aufregung nur wenig mit. Er nützte jede sich bietende Gelegenheit zu einem Trip, als hätte er Angst, in Zukunft keine Möglichkeit mehr dazu zu bekommen. Auch wenn er wieder in die Realzeit zurückkehrte, hielt er sich fern von den Exzessen, in die sich das System in seiner Mischung aus Angst und nervöser Unruhe stürzte. Anstatt sich nach Sepekte oder in eines der Ring-Habitate zu begeben, verkroch er sich lieber auf ’glantine und lebte dort im Schoß des Sept in einer der fünf Jahreszeitenresidenzen und nicht in Pirrintipiti oder einer der anderen Großstädte des Planetenmonds. Wenn er gelegentlich doch einmal nach Pirri reiste oder seinen Urlaub außerhalb von ’glantine verbrachte, spürte er die neuerdings so überhitzte Atmosphäre besonders deutlich.
Meistens freilich war er in einem zerbrechlichen kleinen Gasschiff in Nasqueron mit den Dwellern unterwegs, gelegentlich sogar bei normaler Lebensgeschwindigkeit. Mit den Jüngeren ritt er auf den Gasen und ließ sich von gasriesenumspannenden, planetenverschlingenden Superwinden und Hyperwirbelstürmen durchschütteln. Manchmal schwebte er auch – das war weit weniger spannend, brachte aber häufig bessere Ergebnisse – mit einem der älteren Dweller-Gelehrten gemächlich durch ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek in einer der Millionen von Dweller-Städten. Die Dweller schienen als einzige Bewohner des Systems das Portal überhaupt nicht zu vermissen. Einige der Höflicheren (sie waren selten) brachten mit Floskeln wie ›schade-aber-nicht-zu-ändern‹ ihr Bedauern zum Ausdruck, als kondolierten sie einem flüchtigen Bekannten zum friedlichen Tod eines alten Onkels, aber das war auch schon alles.
Wahrscheinlich war es töricht, dachte Fassin, von einer Rasse, die so uralt war, wie die Dweller es von sich behaupteten, etwas anderes zu erwarten. Angeblich hatten ihre Vorfahren lange, bevor sich der Planetennebel, aus dem Erde, Jupiter und die Sonne entstehen sollten, aus den Trümmern noch älterer Sternengenerationen gebildet hatte, die Galaxis bei wenigen Prozent Lichtgeschwindigkeit mehrfach durchreist. Seither behaupteten sie, sich eingeengt zu fühlen, nicht etwa durch jene absolute Grenze jeder konventionellen Reisegeschwindigkeit, sondern durch die bescheidenen Ausmaße der Galaxis, die bei jenen unendlich weit in der Vergangenheit liegenden, in ihrer Gemächlichkeit fast trotzig anmutenden Expeditionen offenbar geworden waren.
Aus den Tagen, wochen und Monaten des Wartens und der Vorbereitung auf eine Invasion wurde ein Jahr. Die Beyonder-Anschläge nahmen nicht etwa zu, sondern gingen fast auf null zurück, so als wäre der Überfall auf das Portal nicht der logische, wenn auch mit hohen Verlusten verbundene Vorläufer eines Eroberungskrieges, sondern ein letzter, irrer Husarenritt gewesen. Die Jahre rundeten sich zum Jahrzehnt, und allmählich entspannten sich Bürger und Institutionen und wiegten sich in dem Glauben, die Invasion würde niemals kommen. Die Mehrzahl der Notstandsmaßnahmen wurde aufgehoben, doch die Streitkräfte blieben zahlenmäßig stark und in Alarmbereitschaft und suchten mit Sensoren und Patrouillen die Raumsektoren im näheren Umkreis von Ulubis nach einer Bedrohung ab, aber sie schien verschwunden zu sein.
Nach allen Seiten erstreckte sich ein ödes, intergalaktisches Nichts. Der Weltraum war nahezu leer bis auf ein paar uralte, ausgebrannte Sonnen ohne Planeten oder mit Systemen ohne Leben, etliche Staub-und Gaswolken, braune Zwerge, Neutronensterne und anderen Weltraumschutt. Einiges davon, oder auch der Raum dazwischen, wäre theoretisch als Lebensraum für ›langsame‹ Exoten, Cincturier oder Enigmatiker geeignet gewesen, aber dort lebten offensichtlich keinerlei Spezies, die das Schicksal oder die Sorgen der Bewohner von Ulubis auch nur verstanden, geschweige denn Anteil daran genommen hätten. Es gab keine Verbündeten, niemanden, der Hilfe oder Beistand hätte leisten können, und schon gar keine Portalverbindungen.