Weiter draußen am galaktischen Arm war Zenerre fast parallel zum ausgefransten galaktischen Rand auf dem Weg in die dichter werdenden Massen aus Gas, Nebeln und Sternen. weiter nach innen, zwischen Ulubis und dem galaktischen Zentrum, breitete sich der Separat-Cluster Epiphanie Fünf aus, der aus einer Unmenge von einzelnen Separaten bestand, Millionen von Sternen, über Kubiklichtjahrhunderte verteilt. Dort wurden immer noch Welten vermutet, die bis vor siebentausend Jahren Teil der zivilisierten, durch ein Netz von Wurmlöchern verbundenen galaktischen Gemeinschaft gewesen waren, bevor der Arterie-Zusammenbruch den Krieg der Neuen ›Schnellen‹ einleitete und alles in ein heilloses Chaos stürzte.
Zwei Jahrhunderte, ein Jahrzehnt, vier Jahre und zwanzig Tage nach dem Angriff auf das Portal, also genau zum errechneten Zeitpunkt, traf das erste Signal von Zenerre ein, gleichsam die Wellenfront, der ein ständiger Strom von Informationen aus dem Rest der vernetzten Galaxis folgen sollte. Dort, so teilte man Ulubis mit, gehe das Leben weiter wie bisher. Beim Anschlag auf sein Portal habe es sich um eine Einzelaktion gehandelt, im Grunde sei mit der Merkatoria alles in Ordnung. Anschläge und Übergriffe von verschiedenen Beyonder-Gruppen fänden überall in der zivilisierten Galaxis auch weiterhin statt, ebenso wie Operationen gegen die Rebellen, aber alles halte sich auf dem Niveau, auf dem sich die Beyonder-Kriege seit Jahrtausenden bewegten. Im Grunde nicht mehr als eine Dauerbelästigung, aus taktischer Sicht störend und leider auch kostspielig, aber strategisch bedeutungslos, ein allgegenwärtiges Hintergrundrauschen von Mikrogewalttätigkeiten, das die Menschen inzwischen als ›das Brummen‹ bezeichneten.
Im Ulubis-System löste die Nachricht Erleichterung und Verwirrung aus, und man hatte das unbestimmte Gefühl, Opfer einer Schikane geworden zu sein. Weniger als ein Jahr nach der Katastrophe trat das Technikschiff Est-taun Zhiffir die Reise von Zenerre nach Ulubis an. Die Reisedauer wurde anfänglich auf 307 Jahre angesetzt und später, als das T-Schiff seine Geschwindigkeit steigerte und sich der Lichtgeschwindigkeit weiter annäherte, stufenweise reduziert, bis sich die Schätzung auf 269 Jahre einpendelte. Die Techniker an Bord regulierten die Systeme so, dass das mitgeführte Portal vor den Auswirkungen seiner eigenen und der relativistischen Schiffsmasse geschützt war. Die Bewohner des Ulubis-Systems wurden ruhiger, auch die letzten Reste des Kriegsrechts verschwanden aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Die vielen nach der Portalzerstörung Geborenen malten sich aus, wie es sein könnte, eine Verbindung zur übrigen Galaxis zu haben, jener halb mythischen Metazivilisation, von der sie so viel gehört hatten.
Der Augenblick der Drehung war gekommen. Fassin spürte undeutlich, wie der Druck auf Brust, muskulatur und Gliedmaßen im Lauf von wenigen Sekunden wich. Sein Körper reagierte auf die Veränderung, indem er sich schlagartig aufblähte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er hielt die Augen geschlossen. Gleich darauf spürte er eine sanfte Kraft, einen gelinden Druck irgendwo unterhalb seines Kopfs, dann war er wieder schwerelos, und Augenblicke später folgte ein Ziehen irgendwo unterhalb seiner Füße. Das Gewicht kehrte zurück, der Druck baute sich rasch wieder auf, bis das Rauschen in seinem Kopf nachließ und er wieder nur das ferne Grollen des Schiffs hörte.
Der Archimandrit Lusiferus stand vor den Trümmern der Stadt. Er bückte sich, wühlte mit behandschuhten Fingern im weichen Boden, scharrte eine Hand voll Erde zusammen und hielt sie sich vor die Augen. Er starrte die Krumen eine Weile an, führte sie an die Nase und beroch sie, endlich ließ er sie fallen, klopfte sich die Handschuhe ab und schaute hinab in den riesigen Krater, wo einst ein großer Teil der Stadt gestanden hatte.
Noch war der Krater nicht voll gelaufen. Aus dem Mündungsdelta dahinter wälzte sich schäumendes, bräunlich weißes Meerwasser träge über die Kante. Danach verschwand der Wasserfall in einer riesigen Wolkenbank. wo die Fluten auf das Gestein trafen, verdampften sie zischend und fauchend, die große Felsschale kühlte nur langsam ab. Eine dicke Dampfsäule von mehr als drei Kilometern im Durchmesser stieg in den ruhigen pastellfarbenen Himmel, wogte durch die dünnen Wolkenschleier und wurde von den mittleren Atmosphäreschichten platt gedrückt.
Es war eine Marotte des Archimandriten. So oft er einem Planeten, der die notwendigen Voraussetzungen erfüllte, eine schmerzhafte Lektion erteilen musste, wählte er eine Stadt am Meer, ob sie sich ihm nun selbst widersetzt hatte oder nur stellvertretend für den Widerstand anderer Gruppen die Strafe erdulden musste, und gestaltete sie nach dem Vorbild seines geliebten Junch City auf Leseum9IV um. Ein Volk, das Widerstand leistete, sei es während der Eroberung oder unter seiner Besatzung, musste natürlich bestraft werden, doch zugleich dienten die Opfer einem höheren Zweck, denn mit ihrem Tod, mit der Zerstörung großer Teile ihrer Stadt wirkten sie – ahnungslos und ohne es zu wollen – an der Entstehung eines wahren Kunstwerks mit. Lag da unten am Fuß dieses Berges nicht eine neue Faraby-Bucht? War der Spalt, durch den die Wasser donnerten und die Erde erschütterten, nicht eine zweite Force-Schlucht? War dieser mächtige Dampfturm, der zuerst senkrecht nach oben stieg und sich dann bis zum Horizont ausbreitete, nicht ein Markenzeichen, sein ganz persönliches Siegel?
Natürlich war die Bucht zu rund geraten, und der Spalt war nicht mehr als ein Riss in einer bescheidenen Kraterwand, die hauptsächlich aus Mündungsschlamm bestand.Ästhetisch betrachtet blieb er hinter den mächtigen, Kilometer hohen Klippen der echten Force-Schlucht weit zurück. tatsächlich fehlte diesem neuen Junch City der Rahmen, der dramatische Gebirgsring, der die echte Stadt umgab. Der kleine Hügel in der Parklandschaft, auf dem er stand – seine Admiräle, Generäle und Leibwächter warteten gehorsam hinter ihm und störten ihn nicht in seinen Überlegungen –, war nur ein kläglicher Ersatz für die schroffe Klippe der Felsenzitadelle und die grandiose Aussicht aus seinem Arbeitszimmer.
Aber ein Künstler musste mit dem Material arbeiten, das eben zur Hand war. Wo einst nur eine geschäftige Meeresstadt wie viele andere am Strand geklebt hatte, hügelig, strukturlos um einen Nebenfluss herumgewuchert, mit den üblichen, von Hochhäusern, Hafenanlagen, Wellenbrechern und Ankerplätzen geprägten Randbezirken – mit anderen Worten kaum verändert durch so genannte Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Feuersbrünste, Beschuss von See oder aus der Luft oder frühere Invasionen –, da war nun das Bild eines fernen und lieblichen Ortes entstanden. Diese Landschaft mit ihrer wilden Schönheit war der richtige Rahmen für eine neue Stadt nach dem Bild seiner Herrschaft. Sie stellte – ja – so etwas wie eine heilende Verbindung zu jenen andern Völkern und Orten her, die sich seinem Willen unterworfen hatten, eine Verbindung im Leiden wie im Erscheinungsbild. Denn dieser majestätische Krater, sein jüngstes Werk, war nur seine letzte Schöpfung, ein weiterer Edelstein an einer Kette, die zurückreichte bis nach Junch City, jenem Urbild von Anmut und Schönheit.
Erobern und zerstören konnte jeder, der fest an sich glaubte, der ausreichend skrupellos war und (Lusiferus hielt dieses Eingeständnis für ein Zeichen von Bescheidenheit) das nötige Glück hatte – wenn der Wille vorhanden war und die Zeiten solche Maßnahmen erforderten. Einschätzen zu können, wie weit die Zerstörung gehen musste, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, zu wissen, wann man gnadenlos zu sein und wann man Nachsicht oder gar Großmut mit einer Spur Humor zu zeigen hatte, um seine Opfer zu betören und ihren Zorn zu entschärfen, das erforderte Augenmaß, Feingefühl und – ihm wollte kein anderes Wort einfallen – Kultur. Er verfügte über diese Eigenschaften. Seine Erfolge sprachen für sich. Noch einen Schritt weiter zu gehen und aus der bedauerlichen, aber unvermeidlichen Zerstörung nach dem Bild eines besseren Ortes ein Kunstwerk zu schaffen und Urbild und Abbild symbolisch zu einer Einheit zusammenzuschmieden … damit begab man sich als bloßer Krieger, als einfacher Politiker in eine andere Dimension, erhob sich in den Rang eines Schöpfers.