Warum sich die Dweller also die Mühe gemacht haben sollten, ein geheimes Wurmlochnetzwerk zu bauen, war daher ein Rätsel, ebenso, wie es ihnen gelungen war, ein solches Netz über so viele hundert Millionen Jahre geheim zu halten, und erst recht, wie sich das damit vereinbaren ließ, dass jede einzelne Dweller-Gemeinde ganz offensichtlich Wert darauf legte, sich von allen anderen zu isolieren.
Trotz alledem war der Mythos der Dweller-Liste für die Allgemeinheit und erst recht für die Verschwörungstheoretiker nach wie vor ein aufregendes Thema. Besonders in diesen schwierigen und gefährlichen Zeiten wäre es mehr als großartig gewesen, wenn solch ein geheimes Wurmlochnetzwerk existiert hätte.
Fassin war sich mit den Fachbüchern darüber einig, dass die Liste nicht zufällig zum ersten Mal während des Burster-Krieges aufgetaucht war, als die ganze galaktische Gemeinschaft auseinander zu fallen drohte und man sich auch noch an den letzten Strohhalm klammerte. Damals war die Gesamtzahl der Portale von fast 39 000 – einem Stand, der nie mehr übertroffen werden sollte – auf knapp tausend zurückgegangen. Im Dritten Chaos wurde mit galaxisweit weniger als hundert Löchern die Talsohle erreicht, aber die Dweller waren nicht eingesprungen und hatten etwa ihr geheimes System zur Nutzung freigegeben. Wenn nicht in einem Augenblick, da das Licht der Zivilisation auf der großen Linse vollends zu erlöschen drohte, wann denn? Würden sie der Galaxis überhaupt jemals aus irgendeinem Grund zu Hilfe eilen?
Zum Teil bestand die Faszination der Liste in ihrer Größe. Angeblich enthielt sie mehr als zwei Millionen Portalkoordinaten, das hieß, mehr als eine Million Arteria, die, so nahm man an, zu einem einzigen allumspannenden Netzwerk verbunden waren. Auf dem Höhepunkt des Dritten Komplexes achttausend Jahre früher hatten genau 217 390 bekannte Wurmlöcher die Galaxis zusammengehalten, und soweit man wusste, war dies das dichteste Netz aller Zeiten gewesen. wenn die Dweller-Liste tatsächlich existierende Portale und Arteria aufführte, könnte mit ihr der größte Wandel in der Geschichte der Galaxis eingeleitet werden. Man könnte auf einen Schlag zwei Millionen Systeme miteinander vernetzen, von denen viele noch nie in Verbindung gestanden hatten. Man könnte fast alle Bewohner überall zusammenführen – noch der entlegenste, isolierteste Stern wäre höchstens ein bis zwei Jahrzehnte vom nächsten Portal entfernt. Und man könnte kurzerhand die gesamte galaktische Gemeinschaft wiederaufleben lassen, in einem Ausmaß, wie es in fast zwölf Milliarden zäher, immer wieder stockender Zivilisierung noch nicht da gewesen war.
Doch Fassin und die meisten seiner Seherkollegen hielten solche Hoffnungen schon seit langem für unbegründet. Die Dweller brauchten keine Wurmlöcher, und nichts wies darauf hin, dass sie welche benützten. Als Dweller behaupteten sie natürlich, Experten der Arteria-und Portal-Technik zu sein, und sie hatten sicherlich auch keine Angst vor Wurmlochreisen, sie sahen nur einfach keine Notwendigkeit dafür … aber selbst wenn sie sich jemals ernsthaft mit dem Wurmlochbau beschäftigt hätten, wären diese Zeiten längst vorbei. Außerdem wäre man mit der Liste selbst, die seit hunderten von Jahrmillionen in zahllosen Kopien in Bibliotheken und Datenspeichern herumlag, so dass jeder mit einem entsprechenden Datenanschluss darauf zugreifen konnte, noch längst nicht am Ziel; sie enthielt nur grob die Koordinaten von zwei Millionen Gasriesen in zwei Millionen Systemen. Man brauchte aber präzise Angaben.
Die naheliegendsten Stellen für eine Suche wären die jeweiligen Trojanischen oder Lagrange-Punkte gewesen, gravitationsstabile Zonen auf und zwischen den Bahnen der verschiedenen Planeten in den angegebenen Systemen. Doch diese Möglichkeiten hatte man längst eliminiert. Danach wurde es schwieriger. Theoretisch konnte man eine Wurmlochmündung in jedem stabilen Orbit irgendwo im System absetzen, wo sie unentdeckt bliebe, falls nicht jemand durch Zufall darüber stolperte. Aktive Portale waren bis zu einem Kilometer breit und hatten eine effektive Masse von mehreren hunderttausend Tonnen. Ein geschrumpftes und stabilisiertes Portal mit relativ einfachen automatischen Systemen, die dafür sorgten, dass es auch in diesem Zustand blieb, hinterließ dagegen nur eine Gravitationssignatur von weniger als einem Kilogramm und konnte mehr oder weniger unbegrenzt lange in einem Orbit kreisen, der so weit draußen lag wie die Oort’sche Wolke eines Systems. Die Schwierigkeit war nur, den Ort adäquat zu beschreiben.
Angeblich existierte noch ein weiterer Koordinatensatz oder auch eine einzelne mathematische Operation, eine Transformation, die wie von Zauberhand die genauen Positionen der Systemportale lieferte, wenn man sie auf die in der ursprünglichen Liste aufgeführten Koordinaten anwendete. Dagegen ließ sich natürlich einwenden, dass kein bekanntes Koordinatensystem nach mindestens vierhundert Millionen Jahren noch zuverlässig angeben konnte, wo sich ein so kleines Objekt wie ein Wurmloch-Portal befand. (Es sei denn, die Löcher hätten sich über die ganze Zeit alle mit irgendeiner Automatik in der gleichen relativen Position gehalten. Doch in Anbetracht der unbekümmerten Lässigkeit, mit der die Dweller an alle technisch anspruchsvollen Verfahren herangingen, wäre dies ausgesprochen unwahrscheinlich.)
»Vielleicht«, sagte das Abbild über dem schwarzen Kessel im Zentrum des Audienzsaals, »darf ich davon ausgehen, dass inzwischen jedermann weiß, wovon die Rede ist …« Es sah sich noch einmal um. Niemand widersprach.
»Die Dweller-Liste«, sagte das Hologramm,»die angeblich die ungefähre Position von zwei Millionen uralter Portale aus der Zeit vor der Dritten Diaspora-Epoche angibt, wurde über eine Viertelmilliarde Jahre als belanglos, als Schwindel oder als Mythos abgetan. Die so genannte Transformation zur Ergänzung der Informationen, die man braucht, um auf dieses geheime Netzwerk zuzugreifen, bleibt bislang unauffindbar, und ist, falls sie tatsächlich existieren sollte, wahrscheinlich unbrauchbar. Sei dem, wie es wolle. inzwischen sind neue Informationen ans Licht gekommen, und das verdanken wir Seher, jetzt Major Taak.«
Fassin spürte, wie sich wieder alle Blicke auf ihn richteten. Er selbst starrte unverwandt auf das Hologramm.
»Vor knapp vierhundert Jahren«, sagte das Hologramm, »nahm Seher Taak an einer längeren Expedition teil – einem so genannten ›Trip‹ – der ihn zu den Dwellern von Nasqueron führte, genauer gesagt zu einer Gruppe von Halbwüchsigen, die sich Stamm Dimajrian nannte. während dieses Aufenthalts machte er die Bekanntschaft eines uralten Dwellers, und der eröffnete dem Seher – in einem Anfall von Großzügigkeit, wie er bei seinesgleichen ungewöhnlich ist – Zugang zu einer kleinen Bibliothek, die Teil eines größeren Informationshortes war.«
(Eigentlich war es genau umgekehrt gewesen – der Mythos hatte die Fakten verdrängt. Fassin hatte mit Valseir Jahrhunderte verbracht, mit dem Stamm Dimajrian dagegen nicht einmal ein ganzes Jahr. Hoffentlich waren die übrigen Informationen des Admirals zuverlässiger. Dennoch erschien plötzlich vor seinem inneren Auge ganz deutlich der Choal Valseir, wie er, uralt und riesig, mit Lumpen und Lebensamuletten behängt, gedankenverloren in seiner riesigen Nestschüssel von Arbeitszimmer schwebte, tief in dem verschollenen Abschnitt des unbewohnten WolkenTunnels am Rand eines abflauenden Riesensturms, der sich seither längst aufgelöst hatte. »Wolken. Ihr seid wie die Wolken«, hatte Valseir zu Fassin gesagt. Der hatte damals nicht verstanden, was der greise Dweller meinte.)
»Die Rohdaten mit dieser Information wurden an die Justitiarität zur Analyse weitergegeben«, sagte die Gestalt über dem schwarzen Kessel. »Zwanzig Jahre später, nachdem die üblichen Untersuchungen und Interpretationen abgeschlossen waren und man an sich auch ausreichend Zeit für alle Bedenken, Neubewertungen und plötzlichen Eingebungen gehabt hätte, teilte man diese Daten im Rahmen eines offiziellen Informationsaustauschs mit den Jeltick.«