Im Anschluss an die Dritte Diaspora-Epoche (und manches andere – die galaktische Geschichte verlief auf keiner Zeitskala wirklich linear) kam Ulubis durch ein neues Wurmloch wieder ans Netz und wurde in den Dritten Komplex integriert. Diese Arteria überdauerte siebzig Millionen Jahre, eine produktive, friedliche Epoche, in der mehrere ›schnelle‹, aber nicht auf Ulubis entstandene Spezies kamen und wieder verschwanden. Nur die Dweller verfolgten als immerwährende Zeugen den gemächlichen Gang des Lebens und der Geschichte. Dann wurde Ulubis durch den Großen Arteria-Zusammenbruch zusammen mit fünfundneunzig Prozent der vernetzten Galaxis abermals in die Einsamkeit gestürzt. Im Krieg der ›Neuen Schnellen‹ und im Maschinenkrieg wurden weitere Portale und Wurmlöcher vernichtet, und erst die Gründung der Merkatoria brachte – zumindest nach Ansicht ihrer Führer, einen dauerhaften Frieden und leitete den Vierten Komplex ein.
Ulubis war im Verlauf dieses noch im Anfangsstadium befindlichen Prozesses schon frühzeitig wieder angeschlossen worden, und dank dieser jüngsten Arteria war das System sechstausend Jahre lang ein leicht erreichbarer Teil der allmählich wiederauflebenden galaktischen Gemeinschaft gewesen. Doch auch dieses Wurmloch war zerstört worden, und seit mehr als einem Vierteljahrtausend befand sich der nächstgelegene funktionsfähige Zugang für Ulubis auf Zenerre, volle zweihundertvierzehn Jahre weiter innen im zunehmend dicker werdenden Strom. Das sollte sich nun in etwa siebzehn Jahren ändern. Dann nämlich würde ein Wurmloch-Endpunkt eintreffen, der zurzeit mit relativistischer Geschwindigkeit auf dem Technikschiff Esttaun Zhiffir zum Ulubis-System unterwegs war. Wahrscheinlich würde man ihn an der gleichen Stelle installieren wie das alte Portal, an einem der Lagrange-Punkte in der Nähe von Sepekte, dem Hauptplaneten des Ulubis-Systems. Im Augenblick stand Ulubis jedoch trotz seiner Bedeutung als Zentrum der Dweller-Forschung zeitlich und physisch im Abseits.
Onkel Slovius entließ den Diener mit einer Flossenbewegung und zog sich an dem y-förmigen Trägergerüst, das ihn mit Kopf und Schultern über der glänzend blauen Oberfläche hielt, nach oben. Der Diener – Fassin hatte ihn inzwischen erkannt, es war Guime, der zweithöchste Bedienstete seines Onkels – kam zurück und wollte dem Alten behilflich sein. Doch Slovius zischte und schnalzte gereizt und wollte mit einer Flossenhand nach dem Mann schlagen. Doch die Bewegung war zu langsam und kraftlos. Guime wich mühelos aus, verneigte sich, zog sich an die Wand zurück und blieb dort stehen. Slovius hievte seinen Oberkörper noch etwas weiter aus dem Becken. Rumpf und Schwanz schwebten träge unter den leuchtend blauen Wellen.
Fassin wollte sich aus seinem Schneidersitz erheben. »Onkel, soll ich dir …?«
»Nein!«, rief Slovius frustriert, obwohl es ihm nicht gelingen wollte, sich weiter nach oben zu schieben. »Warum will mich alle Welt nur ständig bemuttern!« Bei diesen Worten drehte er den Kopf zur Seite, um Guime anzusehen, doch dabei rutschte er noch weiter ab und lag schließlich mehr in der Horizontalen als zuvor. Er patschte mit der Flosse auf die Oberfläche. »Da! Siehst du, was du angerichtet hast, du Idiot? Immer musst du dich wichtig machen!« Er seufzte tief auf, legte sich sichtlich erschöpft in die wogenden Wellen zurück und starrte vor sich hin. »Wenn du willst, kannst du mich umbetten, Guime«, sagte er matt. Es klang resigniert.
Guime kniete sich hinter seinen Herrn auf die Fliesen, packte ihn mit beiden Händen unter den Achseln und zog ihn so weit auf das Gerüst hinauf, dass Kopf und Schultern nahezu senkrecht waren. Slovius setzte sich zurecht, dann nickte er gebieterisch. Guime nahm seinen Platz an der Wand wieder ein.
»Nun zu dir, Neffe.« Slovius faltete die Flossen über der breiten, haarlosen Brust und richtete den Blick zur Kuppel empor.
Fassin lächelte. »Ja, Onkel?«
Slovius zögerte. Sein Blick wanderte zu seinem Neffen. »Wie steht es mit deinen … deinen Studien, Fassin? Wie kommst du voran?«
»Ich bin zufrieden. Für die Tranche Xonju ist es natürlich noch sehr früh.«
»Hmm. Früh.« Wieder blickte Onkel Slovius mit nachdenklicher Miene ins Leere. Fassin seufzte insgeheim. Die Unterredung würde wohl noch eine Weile dauern.
Fassin Taak war ›Langsamen‹-Seher am Hof der Dweller von Nasqueron. Die Dweller – genauer gesagt, die Gasriesen-Dweller … der Auftriebsneutrale Flächendeckende Gasriesen-Dweller-Stamm Erster Ordnung im Klimaxstadium, um die Präzision auf eine geradezu schmerzhafte Spitze zu treiben – waren große Lebewesen von unermesslichem Alter, Angehörige einer verwirrend komplexen und topologisch riesigen uralten Zivilisation. Ihr Lebensraum, die Wolkenschichten um den gewaltigen Gasriesenplaneten, war von seinen Ausmaßen her gigantisch und zudem in seiner Aerographie ständigen Veränderungen unterworfen.
Dweller, zumindest ausgewachsene Dweller dachten sehr langsam. Sie lebten langsam, entwickelten sich langsam, reisten langsam und übten auch fast alle anderen Tätigkeiten langsam aus. Man unterstellte ihnen, sie könnten ziemlich schnell kämpfen, das war jedoch schwer nachzuweisen, denn sie hatten es schon lange nicht mehr nötig gehabt, irgendwelche Kriege zu führen. Daraus folgte, dass sie auch schnell denken konnten, wenn es ihnen beliebte, aber meistens war das offenbar nicht der Fall, und so ging man davon aus, dass sie auch hier langsam waren. Unbestritten war, dass sie sich in späteren Jahren – oder Äonen – für ihre Gespräche sehr viel Zeit nahmen. So viel, dass manche einfache Frage vor dem Frühstück gestellt und erst nach dem Abendessen beantwortet wurde. Und Fassin hatte den Eindruck, als sei Onkel Slovius – der mit einem entrückten Ausdruck auf seinem verquollenen Gesicht mit den Stoßzähnen in den inzwischen unbewegten Fluten trieb – fest entschlossen, diese Form der Unterhaltung zu übernehmen.
»Bei der Tranche Xonju geht es um …?«, fragte Slovius plötzlich.
»Literarische Fragmente, Diaspora-Mythen und verschiedene historische Verwicklungen«, antwortete Fassin.
»Aus welchen Epochen?«
»Die meisten Texte müssen erst noch datiert werden, Onkel. Bei einigen wird das womöglich nie gelingen, man muss sie eventuell zu den Mythen rechnen. Die einzigen Stränge, die sich leicht zuordnen lassen, sind neueren Datums und beziehen sich hauptsächlich auf regional begrenzte Ereignisse während des Maschinenkriegs.«
Onkel Slovius nickte langsam und löste damit neue Wellen aus. »Der Maschinenkrieg. Das ist interessant.«
»Ich hatte die Absicht, mir diese Stränge als Erste vorzunehmen.«
»Ja«, sagte Slovius. »Das ist eine gute Idee.«
»Danke, Onkel.«
Slovius war wieder verstummt. In der Ferne grollte ein Erdbeben, und in der Flüssigkeit im Becken bildeten sich kleine konzentrische Kreise.
Die Zivilisation der Dweller von Nasqueron mit der dazugehörigen Flora und Fauna war nur ein mikroskopisch kleiner Teil der Dweller-Diaspora, einer galaxisweiten Meta-Zivilisation (manchmal war auch von Post-Zivilisation die Rede), die, soweit sich das feststellen ließ, allen anderen Reichen, Kulturen, Diasporen, Zivilisationen, Förderationen, Sozietäten, Zusammenschlüssen, Bündnissen, Ligen, Genossenschaften, Affiliationen und Organisationen von mehr oder weniger ähnlichen Wesen übergeordnet war.