Heinrich Steinfest
Der Allesforscher
Teil 1
Achtung, Sie hören jetzt Schönberg!
Eine Art Vorspann
Der Beginn eines jeden Buchs leidet unter einem großen Manko: Es fehlt die Musik.
Wie gut hat es da der Film, dessen Vorspann getragen wird von einer klanglichen Ouvertüre, die verspricht, was nachher erfüllt wird oder nicht, aber in jedem Fall den Zuseher augenblicklich in ihren Bann zieht, augenblicklich eine Aufregung, eine Rührung oder ein Staunen hervorruft.
Denken Sie zum Beispiel an Der Weiße Hai. Im wirklich allerersten Moment, als mitten im Weltraum die rotierende Erdkugel der Universal Studios sichtbar wird, vernehmen wir die Echolaute aus einem Unterwassersonar, harmlos noch, zwitschernd, plaudernd, ein friedliches Meer, nur daß es friedliche Meere nicht gibt. Und gleich darauf, als die Namen der Produzenten in einfachen weißen Lettern sich vor absoluter Schwärze abzeichnen, setzt die Musik ein, sie nähert sich bedrohlich, die Musik, und mit ihr der große Fisch. Man sieht ihn aber nicht, sondern die Kamera scheint in den Augen des Fisches einzusitzen, zeigt, was er sieht, wie er jetzt durchs Riff gleitet. Dies mutet zwar eher an wie der Ausblick eines Anemonenfisches, aber erstens heißt es ja, selbst diese Winzlinge würden Taucher attackieren, und außerdem ist es weiterhin die Musik — noch kräftiger, noch unheimlicher, mehr Instrumente, mehr Noten — , die so unverkennbar signalisiert, wie groß dieser Fisch sein muß und daß in dieser Geschichte sehr, sehr lange nichts gutgehen wird.
Als nun die Musik endet (beziehungsweise zum biederen Gedudel einer Mundharmonika übergeht), wechselt die Kamera zu einer fröhlichen Gruppe junger Menschen, die spätabends am Strand sitzen und feiern — und wir fragen uns sofort, wer von denen jetzt so blöd sein wird und Steven Spielberg den Gefallen tut, im Meer schwimmen zu gehen.
Es sind zwei Filme und die beiden zu ihnen gehörenden Musiken, die das Verhältnis der modernen Menschen zum Wasser insgesamt geprägt haben: Der Weiße Hai und Psycho. Einmal das Meer, einmal die Dusche. Ohne die Kompositionen von John Williams und Bernard Herrmann wäre der Horror nur der halbe. Der Fisch böse, aber auch nur ein Fisch. Das Messer tödlich, aber trotzdem ein bloßes Artefakt, das mißbräuchlich benutzt wurde. Erst die Musik gibt dem Horror eine Stimme, im wahrsten Sinne, eine Stimme, die aus der Hölle stammt und den Hai wie auch das Messer mit einer finsteren Seele ausstattet. (Man kann das leicht beweisen und braucht sich nur die beiden Filme ohne die Musik anzusehen. Was sich dann offenbart, ist zwar noch immer kein Spaß, aber es fehlt nun jene Dämonie, die die Klänge zu transportieren verstehen. Eine Dämonie, die den Schrecken schrecklicher macht — und zugleich schöner.)
Es stimmt, Titelsequenzen wurden dafür geschaffen, die Namen der Schauspieler, der produzierenden und kameraführenden und anderweitig involvierten Personen in rascher Folge mehr oder weniger prominent zu präsentieren. Doch es ist die Musik, die zu diesem frühen Moment den Zuseher und Zuhörer unmittelbar in den Film hineinzieht. In der Art, wie man ohne jede Vorwarnung einen Kuß erhält oder eine Ohrfeige. Ein Buchumschlag oder Prolog ist dagegen schwächlich. Ein kleines Zittern im Vergleich zum Schüttelfrost.
Ich würde viel darum geben, könnte ich der Geschichte, die hier zu erzählen ist, eine Einleitung verleihen, die mit Musik und verdichteten Bildern unterlegt wird, Bildern, vor deren Hintergrund Personen oder Dinge auftauchen und verschwinden gleich Geistern. Geistern von Bedeutung.
Wie würde ich diese Eröffnungssequenz umsetzen? Welche Musik verwenden? Eine klassische oder eher eine dieser Zwölftonkompositionen, die an unseren Nerven zerren? Aber eben ganz anders, als viele es im Konzertsaal empfinden, dort die Nerven tötend, beim Vorspann hingegen in der Tat an ihnen ziehend: eine Spannung erzeugend.
Ja, ich denke, ich würde etwas von Schönberg nehmen. Und dazu anfangs völlig uneindeutige dunkle Bilder, in die sich nach und nach helle, bläuliche Flecken mischen und den Zuseher begreifen lassen, auf eine in Zeitlupe ablaufende Unterwasserszene zu schauen. Schlußendlich realisiert das Publikum, daß es sich um ein mächtiges Wesen oder Objekt handeln muß, welches hier durchs Wasser gleitet. Keinen Hai, eher ein U-Boot oder einen Wal oder schwimmenden Elefanten, vielleicht auch ein versinkendes Schiff. So klar soll das jetzt noch gar nicht werden, weil der Vorspann etwas verspricht, aber nicht verrät. Ein riesiges Ding eben. Riesig und dennoch verletzlich, zumindest wird diese Verletzlichkeit in einer letzten Einstellung angedeutet, dann, wenn der Name des Regisseurs auf der Leinwand sichtbar wird. Wie bei einer umgekehrten Schöpfung, wo der Name des Schöpfers den Schluß der Schöpfung bildet. Beinahe im Stil eines Geständnisses, einer Reue oder Abbitte. Ein Gott, der sich entschuldigt.
Das Ende des Vorspanns gleicht dem Tod. Danach kommt das Leben. Aber es ist eben ein gewesenes.
1 »Oha!«
Ein Oha! denken oder sagen oder rufen kann eigentlich nur bedeuten, sich in einem Zustand der Verspätung zu befinden. Und damit ist nicht allein die Straßenbahn gemeint, die einem davonfährt. Sondern auch und vor allem die, die auf einen zufährt.
*
Als sich das Ding mit rasender Geschwindigkeit näherte, erstarrte ich. Aber was hätte ich tun sollen? Mich wegducken? Fürs Wegducken ging alles viel zu schnell. Fürs Wegducken hätte es einer Vorbereitung bedurft, einer Warnung, einer Regieanweisung. Wobei ich absolut flink sein konnte, sechsundzwanzigjährig, Hürdensprinter, beinahe Deutscher Meister, jedenfalls im Besitz eines Körpers, der einem möglichen Sich-zur-Seite-Biegen, Sich-auf-den-Boden-Werfen nicht im Wege gestanden hätte. Keine selbstverschuldeten Hindernisse auf Hüfthöhe. Keine fettreichen Anhängsel.
Doch umsonst. Ich war völlig in meiner Fassungslosigkeit gefangen. Eigentlich schon von dem Moment an, als ich den Schwertransporter erblickte, der da die Straße herunterkam und auf dessen Ladefläche sich wahrhaftig ein Wal befand: ein gewaltiger Brocken von Fisch, auch wenn jedes Kind dir sagt, Wale seien keine Fische. Aber mein Gott, genau so schauen sie doch aus. Dieser hier lang wie eine Straßenbahn, aber viel massiver, kastenartig, schwärzlich, der Schädel größer noch als der Rest. Keine Frage, ein Pottwal, so viel Naturkunde hatte ich auch noch intus. Ich konnte mir nicht mal sicher sein, ob der Fisch auf dem Laster tot oder halbtot war oder eher betäubt. Und auf dem Weg wohin? Ins Museum? Ins Aquarium? Nach SeaWorld? — Daß man dort auch schon mit Pottwalen spielen konnte, wäre mir allerdings neu gewesen. Konnten Pottwale, so umständlich groß, wie sie waren, durch Reifen springen? Pirouetten drehen? Schnattern wie Delphine? Ihre schweren Köpfe hochhalten und um kleine Leckerbissen betteln? Autisten heilen? Oder war das, was ich dort auf dem Lkw sah, vielmehr eine Attrappe? Ein Werbegag? Allerdings wirkte das Tier ungemein echt, wie frisch gefangen, als es da keine paar Meter von mir entfernt vorbeikam und ich ihm hinterherglotzte.
Das war genau so ein Moment, wo man sich gerne fragt, ob man träumt oder wacht. Wobei ich noch gar nicht schlafen gegangen war, sondern die gesamte Nacht in mehreren Bars zugebracht hatte, in die wir von den taiwanischen Geschäftspartnern geführt worden waren. Eigentlich nicht meine Sache, die Sauferei, und daß da immer Mädchen neben dir stehen und dich freundlich anlächeln und ein bißchen Englisch reden, so ein gekichertes Englisch, das aus drei zerschnipselten Wörtern besteht. Dabei sind die Mädchen sicher nicht blöd, eher hat man das Gefühl, selbst blöd zu sein, so wie ein schiefes Gebäude an der Theke zu lehnen und ein Glas nach dem anderen hinunterzukippen