Entgegen meiner Erwartung breitete sich jedoch nirgends eine Blutlache aus, bloß ein Pünktchen Rot zierte den Mundwinkel. Als wär’s ein Schönheitsfleck an untypischer Stelle. Aus der Nase und dem Ohr allerdings sickerte eine klare Flüssigkeit, die wohl aus dem Hirn dieses Mannes stammte. Doch sogar das wirkte fast harmlos. Weniger harmlos mutete hingegen die tiefe Grube an, die an der Schläfe entstanden war … anders gesagt: Die Schläfe war völlig verschwunden, statt dessen klaffte eine richtiggehende Kuhle, ein Schläfenkrater von rotblauer Färbung. Dasselbe Rotblau, das die erstarrten und etwas vorgetretenen Augen des Mannes umrahmte. Er war ganz offenkundig tot, ich konnte mir sparen, seine Halsschlagader abzutasten. Hier war nichts wiederzubeleben. Das Gesicht dieses Mannes erinnerte nicht nur optisch an den Marsmond Phobos, sondern war auch genauso menschenleer.
Ich blieb erstaunlich ruhig. War ich erleichtert? Nicht wirklich erleichtert, aber …
Sagen wir mal so: Der Mann würde für immer seinen Mund halten, ohne daß ich etwas dafürkonnte. Unfälle geschahen nun mal. Das Schicksal war zu derartigen Dingen fähig: jemanden ein Flugzeugunglück überleben zu lassen, um dann beim Stolpern seinen Tod herbeizuführen.
Ich stieg die Leiter nach oben, öffnete die Luke und trat auf die kleine Plattform. Der Himmel war klar, doch es ging ein kräftiger Wind, und die See war bewegt. Bewegt genug, um ein mehrere Meter langes Fragment des Flugzeugrumpfs herangeschwemmt und gegen die Boje geschleudert zu haben. Mich überraschte, daß dieses Flugzeugteil, so schwer, wie es aussah, nicht untergegangen war, sondern jetzt eng an die Boje gelehnt mit dieser ein schaukelndes Paar bildete.
Klar, ich würde warten, bis die Retter eintrafen. Und das würden sie demnächst ganz sicher. In der Folge wäre ich angehalten, den Unfall so zu beschreiben, wie er sich abgespielt hatte. Nicht den Streit um die Schwimmweste, natürlich nicht, sondern jene Kollision, die alles verschuldet hatte. Man würde mir ganz sicher glauben, warum denn nicht? Ich brauchte nicht einmal zu lügen. Auch die halbe Wahrheit reichte hier vollkommen aus. Andererseits …
Ich dachte nach. Was, wenn man meine Beschreibung der Geschehnisse mißverstand? Vielleicht sogar mit Absicht mißverstand. Um etwa vom eigenen Versagen abzulenken. Dem Versagen des Piloten. Dem Versagen der Fluglinie. Dem späten Eintreffen der Rettungskräfte. Was weiß ich?! Derartiges geschah. Nicht zu vergessen die Versicherungsgesellschaften, die sich gerne mal verhörten und gerne mal was mißverstanden.
Wenn die Leiche des Zehn-Millionen-Manns hingegen auf dem Meer trieb, würde das so viel eher ins Bild dieser Katastrophe passen. Und würde rein gar nichts an meiner Unschuld ändern.
Ich kletterte wieder nach unten und schulterte den erschlafften Körper. Ein kleiner, aber kein leichter Mann. Es kostete einige Kraft und Mühe, ihn nach oben zu hieven. Während ich ihn keuchend durch die Öffnung ins Freie drückte, kam mir der Gedanke, wie das wohl auf die Retter wirken mußte, würden sie genau in diesem Augenblick eintreffen. Nun, dann konnte ich immer noch behaupten, gedacht zu haben, der Mann wäre am Leben, und darum …
Egal, da waren nirgends Schiffe, keine Helikopter, niemand. Ich war allein mit dem Toten und dem Meer. Und war soeben dabei, den Unglücklichen mit seinem Phobos-Kopf voran ins Meer zu befördern, als mir einfiel, daß unten in der Boje noch immer die Schwimmweste lag. Möglicherweise mit einer Sitznummer versehen, die nicht die meine war.
Doch wen sollte das jetzt noch kümmern? Trotzdem fand ich es besser, die ursprüngliche Ordnung herzustellen. Riskierte also eine kleine Verzögerung und stieg wieder nach unten, um das gelbe Luftpolster zu holen. Ich war somit endlich in der Lage, die Kennzeichnung zu überprüfen. Ob es sich um eine Artikelnummer oder tatsächlich um den Sitzplatz handelte.
Aber …
Ich ließ es bleiben. Ich wollte es nicht wissen. Nicht mehr. Vor allem für den Fall, daß der Zehn-Millionen-Mann geblufft hatte. — So oder so, es war seine Weste. Und indem ich sie ihm nun anlegte, kam er doch noch zu seinem Recht. Auf diese Weise vervollständigt, übergab ich seinen Körper dem Ostchinesischen Meer, dessen Wellen ihn zügig von der verankerten Boje wegtrieben.
«Ruhe in Frieden!«sagte ich, auch wenn das derzeit nur schwer vorstellbar war. Mir tat das alles wirklich leid, sowenig ich es hatte verhindern können. Zugleich aber fühlte ich mich von einer Last befreit. Denn keine Frage, der gute Mann hätte darauf bestanden, sich zu rächen. Im Grunde war es der Umstand seiner Millionenerbschaft gewesen, der mir Angst bereitet hatte. Solche Leute konnten ewig prozessieren. Vor allem waren sie in der Lage, Professionalisten zu engagieren, die das Bild der Wirklichkeit neu malten, beziehungsweise in das Bild der Wirklichkeit kleine fremde Stücke einfügten, die es völlig anders erscheinen ließen. Echte Künstler, die bezahlt werden wollten. Zwar war auch ich selbst nicht völlig mittellos, aber fern den zehn Millionen. Der Mann, dessen kleiner, massiger Taucherkörper in der Ferne jetzt kaum noch auszumachen war, hätte mir durchaus Schwierigkeiten bereiten können, vielleicht große Schwierigkeiten. Mit oder ohne Sitzplatznummer.
So, wie es war, war es vielleicht nicht richtig, aber es war gut. Ein schlechtes Gewissen zu haben wäre platt gewesen. Platt und sentimental. Vor ein paar Stunden noch, als ich den Mann bereits tot wähnte, da hatte ich mich zu Recht ein wenig verantwortlich gefühlt, doch davon war nichts geblieben. Sein zweiter Tod war frei von meiner Intervention gewesen. Außer, daß ich seinen Körper ins Meer befördert hatte, wo man ihn dann finden würde oder auch nicht.
Mich jedenfalls fand man.
Zwei Stunden nachdem ich den Leichnam des Zehn-Millionen-Manns ausgesetzt hatte, wurde ich gerettet. Als einer von nur wenigen Überlebenden. Klar, daß ich es damit ins Fernsehen schaffte. Ob man je den Körper meines einstigen Sitznachbarn aus dem Meer gefischt hatte, sollte ich nie erfahren. Ich fragte auch nicht danach. Schließlich hatte ich nicht mal seinen Namen gekannt. Niemand konnte wissen, daß wir auch nur ein Wort gewechselt hatten.
8
Das eigentlich Fatale an dieser Geschichte bestand darin, daß ich als Folge meiner Rettung nicht nach Taiwan, sondern nach Okinawa geriet, von wo aus ich zurück nach Tokio geflogen wurde. Um nach einer medizinischen Untersuchung, die nichts als meine Unversehrtheit bestätigte, in die deutsche Heimat gebracht zu werden. Ich wehrte mich, aber ich wehrte mich umsonst. Ich war zur» diplomatischen Angelegenheit «geworden. Es schien den deutschen Behörden von großer Bedeutung, selbst nachzuschauen, ob ich tatsächlich so heil geblieben war wie behauptet. Weyland Europe wiederum wollte mich umgehend aus dem operativen Geschäft ziehen. Maître Schmidt drückte es so aus:»Wenn jemand so oft zur falschen Zeit am falschen Ort ist, zeugt das entweder von seiner Unfähigkeit, Katastrophen auszuweichen, oder es zeugt davon, daß er von Gott gestraft ist — und von Gott gestrafte Menschen haben bei Weyland eigentlich nichts verloren.«
Ich erwiderte ihm:»Immerhin habe ich gleich zweimal überlebt.«
Worauf er antwortete, und zwar im Ernst:»Nehmen wir an, Sie sind verflucht, und es gibt kein Ende. Und Sie geraten ständig in solche Dinge. Wie sieht das denn aus? Manchmal ist es besser, ehrenvoll zu sterben.«
«Wollen Sie, daß ich aus dem Fenster springe?«
«Ich sagte ehrenvoll. — Aber niemand will Sie tot sehen. Es wäre uns nur wichtig, daß Sie sich nicht weiter in Gefahr bringen. Irgendwo auf der Welt, wo alle zuschauen. Um dann von Ihnen auf Weyland zu schließen. Nein, ich möchte Sie hier im Haus haben, wo Sie halbwegs sicher sind.«
«Ich bin Reisender und kein Bürohengst, das wissen Sie.«