«Jetzt ist vor allem Ihre Flexibilität gefragt«, sagte er.»Sehen Sie es als ein Zeichen. Vielleicht will eine höhere Macht, daß Sie in Köln bleiben. Man kann auch hier etwas leisten.«
«Sie glauben an höhere Mächte?«
«Stellen Sie sich nicht dumm, Herr Braun, das ist ein Gleichnis. — Sie werden ab sofort in die Abteilung Produktanalyse versetzt.«
«Da passe ich nicht hin.«
«Niemand zwingt Sie zu bleiben.«
«Ach ja, daher weht der Wind.«
«Den Wind, den haben Sie selbst mitgebracht, mein Lieber.«
«Produktanalyse also!«
«Richtig«, sagte er und gab mir ein deutliches Zeichen, mich postwendend genau dort zu melden.
Es versteht sich, daß ich noch von Japan aus versuchte, Lana zu erreichen. Doch es gelang mir erst, als ich bereits in Köln war. Sofort versprach ich ihr, bei der nächstbesten Gelegenheit nach Tainan zu reisen.
«Unsinn«, sagte sie,»das bringt nichts. Was war, war gut, und dabei können wir’s belassen. Sehen Sie es ein, Sie und ich sind nicht füreinander bestimmt. Wahrscheinlich ist das ohnehin niemand. Man geht von einem zum anderen.«
«Das muß nicht sein, Frau Doktor.«
«Wo es nicht so ist, ist es irgendein Klebestoff, der die Leute zusammenhält. Und wer glaubt, die Liebe würde zu den Klebestoffen gehören, hat zu viele Romane gelesen.«
«Sie tun nur so hart.«
«Nein«, sagte sie,»ich bin tatsächlich aus Stahl.«
«Wenn, dann aus Edelstahl«, schmeichelte ich und wiederholte, so bald als möglich zu ihr reisen zu wollen.
Doch Frau Dr. Senft meinte:»Sie würden kaum unverletzt bleiben, würden Sie versuchen, Tainan zu erreichen.«
«Jetzt fangen Sie auch noch an!«
«Wundert Sie das?«sagte sie. Ich konnte dabei richtiggehend ihre Lippen sehen, die Luft zwischen den Lippen, wie diese Luft zusammengepreßt und auseinandergezogen wurde. Keine Fäden, sondern eine elastische Blase. Eine Blase im Farbton der sich spiegelnden Zunge. Eine Zunge, die ich einst geschmeckt hatte.
«Ich werde kommen«, erklärte ich fest.
Sie seufzte. Mehr nicht. Ich schickte ihr einen letzten Gruß durchs Telefon und wartete, bis sie aufgelegt hatte. Eine ganze Weile horchte ich in das rauschende Nichts hinein, dann legte ich ebenfalls auf.
Unbegreiflich, wie es geschehen konnte, daß ich niemals zu dieser Reise aufbrach. — Sicher, zunächst einmal hatte ich einiges zu tun, war gezwungen, meine neue Position bei Weyland anzutreten und den Leuten dort zu beweisen, nicht der Trottel zu sein, für den sie mich neuerdings hielten. Ich mußte fürchten, wegen meiner beiden Unfälle zum tragischkomischen Außenseiter geworden zu sein: ob des ersten Unfalls belächelt und ob des zweiten stigmatisiert. In der Tat hieß es, ich sei verflucht, weshalb es nötig war, diesem Image eine nützliche Richtung zu geben. Die Gewichtung vom Lächerlichen weg und mehr zum Stigma hin zu verschieben. Eher Mal als Makel. Unter der Hand drohte ich den Leuten mit dem Verderben, das meiner Person anhaftete. Wie man mit Kollektivschuld droht. Solcherart wurde ich unbeliebt, aber auch gefürchtet. Was genau ich dabei arbeitete, war nicht das Thema. Das ist es sowieso nie.
Neben dem Beruflichen versuchte ich natürlich auch das Private zu bereinigen, also meine Verlobung aufzulösen. Doch der einst mit so viel Freude erwartete Moment, da ich Lydia und ihren Eltern, Walter und Grita, Wallace & Gromit, dies eröffnen würde, verpuffte. Es kam mir einfach nicht über die Lippen, als sie mich, den Überlebthabenden, empfingen, jedoch kein Wort über den Wal verloren, allein das Flugzeug erwähnten. Lydias Eltern nannten mich zum ersten Mal» mein Junge«. Lydia blieb die ganze Zeit über in meinem Arm eingehängt, während ich ihrem aufgeregten kleinen Bruder in sämtlichen Einzelheiten den Absturz beschreiben mußte.
Später, beim Cognac, legte mir Lydias Vater seine Hand auf die Schulter, als setze er dort ein kleines Klavier mit abgesägten Beinen ab, zog mich ein Stück heran und erklärte:»Junge, wenn du willst, kannst du bei mir arbeiten. Weyland ist eine Sackgasse.«
Ich nickte, dankte ihm und sagte, ich wolle es mir überlegen.
«Und noch was, Sixten, heirate Lydia so schnell als möglich.«
War es ein Befehl gewesen? Ein freundlicher Befehl? So freundlich wie zwingend?
Richtig, ich war sicher nicht der Leibeigene dieser Leute. Aber …
Der Mensch geht in Fallen. Er sieht sie ganz deutlich, jedes Detail, nur eines sieht er nicht, die Wege, die um diese Fallen herumführen. Dabei hätte ich wirklich zu allem» Nein «sagen können, niemand hätte mich dafür gehängt. Doch ich brachte es einfach nicht fertig. Nach einem kurzen Schweigen meinerseits — während Lydias Vater die Hand von meiner Schulter nahm und mit leichtem Druck meinen Oberarm umfaßte, als prüfe er, ob auch genug Fleisch auf meinen Knochen war — , sprang ein» Ja «aus meinem Mund.
«Versprochen, Sixten?«fragte er.
«Versprochen, Walter.«
«Papa, sag Papa zu mir. Das würde mich sehr freuen.«
«Ja, gerne, Papa.«
War es einfach so, daß man sich scheute, Menschen zu enttäuschen? Daß man sich scheute, die Peinlichkeit einer Ablehnung oder Zurückweisung zu riskieren? Ein Geschenk auszuschlagen? Ich hätte mit einer Auflösung meiner Verlobung nichts riskiert, wenigstens nicht viel, dennoch bat ich am selben Abend noch einmal um Lydias Hand, diesmal ihre Eltern so formvollendet wie umständlich darum ersuchend. Genau in der Art, wie Lydia es sich immer gewünscht hatte.
Kann man das begreifen? Entbrannt in meiner Liebe zu einer deutschen Ärztin in Tainan, gab ich nur wenige Monate später Lydia das Jawort. In der Kirche selbstverständlich. Denn so modern, wie Lydia und ich waren, und sowenig wir mit der Kirche was am Hut hatten, fügten wir uns dem Sinn und Zweck des Rituals. Weiß zu heiraten war so notwendig, wie schwarz beerdigt zu werden. Anders gesagt, Lydia wäre lieber gestorben, als sich die Schmach einer unweißen Heirat anzutun.
Klar, man konnte sagen, Frau Dr. Senft hatte mich zuvor abgewiesen. Mich zumindest aufgefordert, daheimzubleiben und mein altes Leben wiederaufzunehmen. Aber das war schließlich kein Grund, den Betrug, den ich an Lydia begangen hatte, dadurch auszuweiten, sie jetzt auch noch zu heiraten. Frei von Liebe, frei vom Bedürfnis, tatsächlich auf den Tag zu warten, da der Tod uns scheiden würde.
Was wir dann ja auch nicht taten, sondern sehr viel früher auseinandergingen, nach zwei Jahren Ehe. Wobei ich leider auch gezwungen war, von ihrem Vater Abschied zu nehmen, in dessen Unternehmen ich eingestiegen war. Unsere Scheidung — also die zwischen dem Schwiegervater und mir — war die friedlichere. Es tat ihm aufrichtig leid, denn er schätzte meine Mitarbeit, meinen Ehrgeiz, meine nüchterne Sicht, doch Lydia hatte mich in diesen zwei Jahren hassen gelernt und bestand darauf, mich ganz und gar aus ihrem Leben und dem ihrer Familie zu entfernen. Zu meiner Überraschung fußte ihr Haß auf der Erkenntnis, von mir nie wirklich geliebt worden zu sein. Ich hatte nicht gedacht, es würde darauf ankommen. Und wäre auch gar nicht in der Lage gewesen, einen Menschen ernsthaft zu lieben, den zu beschreiben ich kaum in der Lage war. Den zu beschreiben ich mich auch gar nicht sehnte. Vielmehr Tag für Tag die hübsche Durchschnittlichkeit dieser Person feststellend. Es war, als würde ich ein Modejournal durchblättern und mir die immer gleichen Models in den immer gleichen Posen ansehen. Frauen, die in Summe eine» Brigitte «ergaben. Meine Brigitte war eben Lydia. Zur Liebe aber reichte das nicht, während ich überzeugt war, wäre ich zu Lana zurückgekehrt, ich hätte mich täglich von neuem an eine Frau mit Ärztekittel oder rotem Kostüm verloren.
Der grundsätzliche Irrtum war gewesen zu meinen, Lydia genüge die Fassade familiärer Bindung. Die ja keineswegs eine Lüge darstellte, denn weder war die Fassade aus Pappe noch aus Styropor. Weder ging ich dauernd fremd, noch ging Lydia dauernd fremd, noch stritten wir uns bis auf Blut. Es fehlten allein die zärtlichen Momente. Lydia sagte einmaclass="underline" »Wenn du mich küßt, kommt mir das vor, als berühre mich ein Geist. Ein kalter Hauch. Brrr!«