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«Hat das nicht auch was Romantisches?«fragte ich.

Sie aber meinte:»Mit einem Geist kann man nicht leben. Mit einem Eisklotz eher, aber nicht mit einem Geist.«

«Ach was, Lydia, du übertreibst.«

Aber sie hatte absolut recht. Befremdlich erschien mir allein der Haß, mit dem sie nach und nach auf meine» Geisterhaftigkeit «reagierte. Wobei sich Lydia nicht allein als gekränkte Seele erwies, sondern gleichermaßen als beinhart. Letzteres war wohl ihrer Modernität geschuldet. Der zeitgemäße Akt der Rache: das Einschalten raffinierter Anwälte.

Ich weiß, was die finsteren Advokaten angeht, wiederhole ich mich. Aber wer wollte mir nicht zustimmen?

Als die Scheidung erfolgt war, hatte ich so gut wie alles verloren: die Frau, die Schwiegereltern, das Zuhause, den Job, eine Menge Geld, zudem kursierten ungute Gerüchte über mich. Wenig Konkretes, eher der dubiose Verdacht, etwas mit mir stimme nicht. Der Verdacht, ich hätte die Sache in Tainan nie ganz überstanden. Was ja etwas für sich hatte.

Ich war verdächtig. Und nachdem ich geschieden war, war ich’s erst recht.

Wie gesagt, es blieb mir selbst ein Rätsel, wieso ich damals, als ich aus Japan zurückgekommen war, meine Ankündigung nicht wahrgemacht hatte und nach Tainan gereist war. Um Lana wenigstens noch ein Mal zu begegnen. Aber ich sah sie nie wieder.

Meine gescheiterte Ehe erschien mir darum wie eine Strafe. Vor allem auch der Verlust des Jobs. Gerade noch Juniorchef, stand ich, beruflich gesehen, auf der Straße und im Abseits. Niemand wollte mich. Das Stigma aus Walunfall und Flugzeugunfall, das zwei Jahre lang ein diabolisch-interessantes Mal gewesen war, stand jetzt wieder auf der Seite des puren Makels.

Immerhin begriff ich, wie sehr diese Strafe dazugehörte. Ich hatte meine Liebe zu Lana verraten. Und da war es nur gut und richtig, damit nicht durchgekommen zu sein.

Aber die Strafe war noch nicht zu Ende. Als ich jetzt nämlich das Versäumte nachholen wollte und in dem Tainaner Krankenhaus anrief, um mich nach Frau Dr. Senft zu erkundigen, wurde mir zuerst einmal die Auskunft verweigert. Man empfahl mir, mich an die Botschaft zu wenden. Doch ich blieb stur und erinnerte an die Sache mit dem Pottwal, die mich vor über zwei Jahren in Kontakt zu Dr. Senft gebracht hatte. Nun wußte man gleich, wer ich war, und stellte mich zum Klinikdirektor durch, der sich übertrieben freundlich nach meiner Gesundheit erkundigte. Aber das war es nicht, worüber ich reden wollte. Ich fragte nach Frau Dr. Senft. Er senkte seine Stimme, als spreche er aus der Spalte eines Marillenkerns heraus, und erklärte mir, daß»this wonderful lady and fine colleague «ein Jahr zuvor, im November 2005, am Vierzehnten des Monats, verstorben sei.

«Was …?«Ich schrie es. Ich schrie es ohne Ton.

«Mr. Brown?«

Für einen Augenblick war ich meinerseits tot. Tot und leer.

Ich stand da, den Hörer am Ohr, bewußtlos auf erfrorenen Beinen stehend, unter mir die Bodenlosigkeit. Irgendwann fragte ich, woran sie gestorben sei.

«Ein Gehirntumor«, sagte der Direktor.

Sollte das ein Witz sein?

Kein Witz, auch wenn es zu Lana gepaßt hätte zu meinen, es sei ganz typisch — eine Ironie der Wirklichkeit — , genau an der Sache zu erkranken, mit der man sich so lange beschäftigt hatte. Wie Leute, die nach und nach ihrem Hund ähnlich werden oder ihrem Lebenspartner. Man steckt sich beim anderen an.

Die Strafe war jetzt groß und mächtig und beschattete alles, was vorangegangen war. Und als ich den Hörer aufgelegt hatte, kam mir der überraschende und völlig neue Gedanke, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Eine Vorstellung, die mir half, so, wie wenn man weint, und ein lieber Mensch tupft einem mit dem Taschentuch auf Auge und Wange. Dabei bin ich nicht der Typ dafür. Für eine solche Schwäche, ein solches Bedürfnis nach Tränentüchern.

Nun, dieser Gedanke an Selbstmord stand zunächst gleichberechtigt neben anderen. Andererseits ist Gleichberechtigung überhaupt die größte aller Illusionen. Ich ahnte, wie sehr dieser Gedanke um die Vormacht kämpfte. Alle Gedanken tun das. Und dieser eine wurde spürbar stärker.

Ich mußte etwas unternehmen. Die Flucht antreten. Zunächst einmal die Flucht aus Köln.

Stimmt, wenn von einem derartigen Davonlaufen gesprochen wird, denkt man an ferne Inselwelten, an Himalajaklöster, an die Wälder Neuseelands und die kalten weiten Öden Alaskas. Aber von meiner Exfrau geradezu gerupft und entblößt, fehlte mir das Geld für dergleichen Unternehmungen. — Moment! Ich sollte hier ganz ehrlich sein. Ich war nicht nur ein Opfer Lydias geworden, die mich hatte bluten lassen, sondern auch der eigenen Spekulationen, beziehungsweise der Spekulationen meines Vermögensberaters. — Kein Bedürfnis hatte die Wende zwischen dem zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert mehr geprägt als jenes, Geld zu verdienen, ohne dafür arbeiten zu müssen: ein Moment der Lust und des Triumphs, wenn aus dem Nichts das Geld sprudelte und man das Gewonnene ins nächste Nichts stopfen konnte, schöpfend, stopfend, immer wieder, immer unverschämter. Sichtbare Anzeichen solchen Schöpfens wie etwa der nagelneue Sportwagen hatten mir dabei wesentlich weniger Vergnügen bereitet als der Umstand, meinen Eltern Geschenke vorbeizubringen, die sie sich in zehn Jahren gottverdammter Sparerei nicht hätten leisten können. Und obgleich die Mutter mit diesen Sachen selten etwas hatte anfangen können, war sie immer ein wenig stolz gewesen, der Vater hingegen skeptisch.

«Sixten, da stimmt was nicht«, erklärte er oft.

«Hast du Angst, ich bin ein Verbrecher?«fragte ich lachend.

«Ich habe Angst, daß alles ein Verbrechen ist, daß man nicht mehr atmen kann, ohne ein Verbrechen zu begehen.«

«Ach Vater, so war es schon immer.«

«Nicht so schlimm wie jetzt, Sixten. Ich sage gar nicht, die Menschen waren früher besser, natürlich nicht. Aber damals hattest du eine Wahl. Heute hast du keine Wahl. Wenn du ein guter Mensch sein möchtest, mußt du zu atmen aufhören. Und dann bist du tot. Das ist die Wahl.«

Bei meinem Vater hörte man immer seine Leidenschaft für den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard heraus. Und auf eine gewisse Weise hatte er ja auch recht. Aber so wie er da stand, so klein und mickrig, die pure verkörperte Sparsamkeit — mit einem so überaus blassen Mund vom vielen Vom-Mund-Absparen — , vor allem aber ohne die geringste Freude ob des Geschenks, das ich ihm gerade gemacht hatte, widerte er mich an.

Nun, die Zeit der Geschenke war vorbei. Vielmehr war ich gezwungen, meinen Vater um ein Darlehen zu bitten, um meinen Wegzug von Köln überhaupt bewerkstelligen zu können.

Wobei ich weniger seine Weigerung als eine Moralpredigt fürchtete. Allerdings zeigte sich mein Vater weder überrascht, noch sperrte er sich. Er half, ohne einen Muckser zu machen, obgleich er Sorgen genug hatte und gerade in Frührente gegangen war. Offenbar war genau das eingetreten, was er erwartet, worauf er ein Leben lang hingespart hatte. Und indem er es so völlig unterließ, seinen Triumph zu zelebrieren, wurde meine Beschämung perfekt.

Nur den Umzug selbst kommentierte der Vater. Er sagte:»Mir wäre lieber, du würdest bleiben. Nicht meinetwegen. Aber die Mama wird leiden.«

Was einfach nicht stimmte. Die Mama würde so wenig leiden wie er selbst. Ich war niemals der Sohn gewesen, den die beiden sich gewünscht hatten. Und wäre auch gar nicht in der Lage gewesen zu sagen, wie ein solcher» erwünschter Sohn «hätte aussehen, was er hätte tun müssen. Dennoch ging ich nun auf das Mamatheater ein und erklärte:»Ach was, ich ziehe doch bloß nach Stuttgart.«

«Wieso überhaupt Stuttgart?«