Sollte ich denn sagen, als Ersatz dafür, mich umzubringen? Nun, das wäre gegenüber dieser Stadt, die ich ja kaum kannte, unfair gewesen, außerdem wollte ich etwas Beruhigendes von mir geben. Weshalb ich erklärte:»Weil Stuttgart nicht Köln ist, aber trotzdem in der Nähe. Vorher mußte ich dauernd in der Welt herumfliegen, doch bei den Schwaben bin ich nur zwei gute Stunden von euch entfernt.«
«Zwei gute Stunden«, wiederholte mein Vater versunken und sagte dann:»Manche Stunde ist wie ein Bollwerk. Da kommst du nicht durch. Seit Jahren denk ich mir, auch wenn ich jetzt nicht mehr so gut sehe, ich sollte mal wieder ins Museum gehen. Du weißt, das Wallraf-Richartz, wo ich früher gleich nach der Schicht so gern war. Ist ja praktisch um die Ecke. Ich bräuchte fünf Minuten mit dem Bus. Fünf Minuten! Und schaff es trotzdem nicht. Auch fünf Minuten können ein Bollwerk sein.«
«Komm! Laß uns hinfahren. Jetzt gleich!«
«Nein, dank dir, Sixten. Ein andermal.«
Ein andermal.
9
Mit dem Geld des Vaters wechselte ich also nach Stuttgart, mietete eine kleine Wohnung und sah mich nach einem Job um. Nicht, daß die Jobs dort auf der Straße liegen. Doch ohnehin wollte ich die Loslösung von der Vergangenheit auf die Spitze treiben und mich auch des Managerdaseins entledigen. Eines Daseins freilich, das mir in den vergangenen Jahren durchaus Freude bereitet hatte. — Es war die dauernde Bewegung, die so reizvoll war. Man saß wie auf einem Pferd, weniger auf der Suche nach einem Weg als nach Hindernissen. Wege waren nur interessant, wenn sie Hindernisse besaßen. Fehlten jedoch die Hindernisse, schuf man sie. Ohne Hindernisse wäre das Ziel, der Profit, bedeutungslos gewesen. Darum irrt die Masse auch, wenn sie meint, es ginge den Managern ums Geld, es treibe sie der viele Luxus an, die Privilegien. Klar, das sind Nebenaspekte, die dankend angenommen werden. So, wie ein Künstler den Applaus annimmt. Aber der Künstler will in die Geschichte eingehen, die Geschichte kümmert ihn, nicht ein Haufen von Zeitgenossen, die es sich jederzeit auch anders überlegen können. Allein das Eingehen in die Geschichte scheint von Wert. Und immer schwingt die Katastrophe mit. Wie ein kleines goldenes napoleonisches Herz, das imstande ist, die Erde zu erschüttern und dramatische Risse zu erzeugen.
So belebend ich es gefunden hatte, den Klang dieses Herzens zu vernehmen und die mitverschuldeten Risse zu studieren, war dies nun passé für mich. Ich sagte mir, daß Lana es nicht gewollt hätte, wäre ich in dieser Sphäre verblieben, die ja eine künstliche ist (auch wenn hier die Kunst das Leben bestimmt). Nein, ganz sicher hätte sie mich lieber unter den Menschen als unter den Gespenstern gesehen, denn Manager und Künstler sind genau das: Gespenster.
Stellte sich natürlich die Frage, wozu ich mich abseits der» Kunst der Ökonomie «und des entfesselten Hindernisspringens überhaupt eignete.
Am Ende meiner Überlegungen schälte sich das eine markante Bild heraus: nämlich ein Mann zu sein, der im Meer nicht untergegangen war. Wäre es da nicht besonders passend, wenn ich in Zukunft versuchte, auch andere vor dem Untergehen zu bewahren? Indem ich …
Es war so ein Wunsch aus Kindertagen. Ich hatte die Bademeister immer bewundert, in ihrer strahlend weißen Kleidung, mit goldbrauner Haut. Die Autorität, die sie pfeifend und rufend und mit erhobener Hand vermittelten, souveräner und auch liebevoller als die Lehrkräfte. Ihre Interventionen waren soviel nachvollziehbarer. Jemand anderem vom Beckenrand aus auf den Kopf zu springen mochte Spaß machen, war aber eindeutig asozial und gefährlich. Wie asozial hingegen war es, in Mathe zu versagen?
Das Schwimmbad war ein Ort des Lebens, die Schule eine Vorhölle. Die Strenge der Lehrer gleich der dubioser Götter, die Strenge der Bademeister weltlich und frei von höllischen Strafen.
Bei aller Strenge verfügten die Bademeister und Bademeisterinnen auch über eine legere Haltung, denn in ihrem Revier herrschte stets Urlaub, ein Gefühl von Sommer selbst mitten im Winter.
Die Bademeister hießen jetzt Schwimmeister. Oder sie waren medizinische Bademeister. Aber wie auch immer man sie nun nannte, ich entschied mich, dem Ruf aus Kindertagen zu folgen. Wenn auch mit einiger Skepsis, was meinen Erfolg betraf.
Doch entgegen meiner Erwartung schienen die Bäderbetriebe Stuttgart auf mich, den Spätberufenen, geradezu gewartet zu haben. Nicht bewußt, natürlich nicht. Doch wie sollte das Bewußtsein einer Bäderverwaltung überhaupt aussehen? Verwaltungen sind fremdgesteuerte Objekte, Bürokratien sehr viel mehr Spielbälle kosmischer Bedingungen, als man meinen möchte. Es geschieht, was längst beschlossen ist.
Nachdem ich meine Ausbildung zum Fachangestellten in Mannheim in zwei statt in drei Jahren abgeschlossen hatte, landete ich mit knapp einunddreißig Jahren in jenem durchaus berühmt zu nennenden Mineralbad Berg in Stuttgart, das erst wenige Jahre zuvor in den Besitz der Stadt übergegangen war. Ein ehrwürdiges Bad, möglicherweise das ehrwürdigste auf der Welt. Ein Tasmanischer Tiger von nüchterner Schönheit, der noch immer in freier Wildbahn lebte, nicht nur gerüchteweise — obgleich es ihn gar nicht mehr hätte geben dürfen.
Dennoch, bei aller Liebe zum neuen Ort, wurde ich weder ein Stuttgarter, noch wurde ich ein Bergianer (wie die Stammgäste dieses Bades sich selbst nennen), ich wurde nicht einmal politisch (wie die Hälfte der Menschen dort im Zuge eines geplanten Bahnprojekts). Aber ich wurde nach zwei Jahren Praxis tatsächlich» Meister«, vor allem aber ein Teil dieser Badeanstalt, gewissermaßen ein Teil der Architektur, jemand, den die Leute mit» Herr Sixten «ansprachen, weil» Herr Braun «viel zu banal geklungen hätte. Eine besonders wohlmeinende ältere Dame erklärte einmal, sie fühle sich angesichts meiner Erscheinung an eine Figur aus der Sixtinischen Kapelle erinnert, weshalb mich» Herr Sixten «zu rufen ganz sicher nicht falsch sein könne.
Klar, daß ich mich erkundigte, an welche Figur sie dabei denke.
«Keine Angst, nicht an den Adam«, gab sie zur Antwort.
«Wieso keine Angst?«
«Na, weil der doch nackt ist. Und das sind Sie ja nicht. Alle anderen hier so gut wie, Sie nicht.«
Richtig, der Bademeister war der einzig wirklich Angezogene im Bad.
Die Dame sagte:»Nein, ich denke an den Daniel.«
Ich fragte sie, wofür dieser Daniel denn stehe, weil ja in einer bemalten Kapelle jeder für etwas stehen würde.
«Er ist der Prophet«, verriet sie,»der, den man in die Löwengrube geworfen hat, die er aber ohne einen Kratzer wieder verläßt.«
«Ach ja. Dann ist in meinem Fall Stuttgart die Löwengrube, oder was?«
«Stuttgart ist die Grube«, bestätigte die Dame,»und wir, die Stammgäste, sind die Löwen, die Ihnen nichts antun. «Sie lächelte verschmitzt und berührte sachte meinen Arm, wie das viele der älteren Damen hier zu tun pflegten: sehr dezent und dennoch vampirisch. Immer wenn sie mich kurz anfaßten, meine Hand, meine Schulter, wenn sie ein Stück Hüfte erwischten oder ihre Fingerkuppen auf das V meines Hemdausschnitts legten, zogen sie etwas aus mir heraus. Was aber nicht schlimm war, weil ich genug zu geben hatte.
Als die Bergianerin wieder ihre Hand von mir genommen hatte, fragte ich sie:»Was hat dieser Daniel eigentlich prophezeit?«
«Den Tod des Messias, und zwar auf den Tag genau. Ein halbes Jahrtausend, bevor Christus dann tatsächlich gekreuzigt wurde.«
Der Daniel-Vergleich verstörte mich ein wenig, nicht zuletzt, weil er völlig unpassend schien. Immerhin war ich überzeugt gewesen, Frau Dr. Senft würde ein langes Leben in anhaltender Schönheit beschieden sein. Und auch den Tod meines Sitznachbarn auf dem Flug nach Taiwan hatte ich nicht vorausgesehen. Nun gut, in erster Linie bezog sich der Vergleich natürlich auf die Art, wie Michelangelo diesen Daniel dargestellt hatte: das bademeisterartig weiße Obergewand und die ausgeprägten Muskeln des linken Arms. Ganz sicher aber nicht auf die wüste Beethovenfrisur, die der Prophet bei Michelangelo trug. Mein eigenes Haar hingegen war eine recht glatte, dunkelblonde Umrandung meiner Kopfform, und keine noch so wilde Nacht vermochte daran etwas zu ändern.