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Ich fragte:»Was soll das?«

«Das ist Simon«, sagte Frau Heinsberg,»der Sohn von Frau Dr. Senft.«

«Ja, daß das Lanas Sohn ist, kann ich vielleicht glauben, aber …«

«Wir hatten keine Ahnung, wirklich nicht, Herr Braun. Es gab hier einige Mißverständnisse.«

«Ach was?!«

«Wir sind natürlich davon ausgegangen, Simon sei das Kind zweier deutscher Eltern. Die Tainaner Behörde hat uns in keiner Weise mitgeteilt, wie wenig das der Fall sein kann.«

«Aber Sie müssen doch Fotos gesehen haben.«

«Hätte ich Fotos gesehen, würden wir jetzt nicht hier stehen.«

«Das ist doch Wahnsinn!«wurde ich laut.»So was von einer Schlamperei! Ist das hier das einundzwanzigste Jahrhundert mit Computern und Internet? Oder tiefste bürokratische Steinzeit? Herrgott noch mal!«

«Bitte nicht, Herr Braun. Simon versteht zwar kein Wort Deutsch, aber er weiß ja genau, daß es sich um ihn dreht. Wenn Sie so schreien, muß er denken, Sie würden ihn für ein kleines exotisches Ungeheuer halten. Nur weil er die falschen Augen hat.«

«Meine Güte, Frau Heinsberg, was wollen Sie mir schon wieder unterstellen? Falsche Augen! Sie möchten immer, daß ich mich schlecht fühle. So geht das schon die ganze Zeit mit Ihnen. Sie versuchen mit allen Mitteln, die Welt zu retten, und jetzt sehen Sie, was dabei herauskommt. — Es ist mir ein Rätsel, wie ein solcher Irrtum geschehen konnte. Seit wann klingt der Name Braun denn Chinesisch? Die Leute in Taipeh mußten doch wissen, daß ich deutscher Staatsbürger bin. Und daß ich unmöglich der Vater dieses Kindes sein kann.«

«Vielleicht die Leute in Taipeh, aber nicht die Leute in Tainan. Offensichtlich ist man in Taipeh von einem rein deutschen Kind ausgegangen und in Tainan von einem in Deutschland lebenden Vater taiwanischer Nationalität, der eine Deutsche geheiratet und deren Namen angenommen hat.«

«Hier wurde viel vermutet und wenig festgestellt.«

«Auch Computer ändern nichts am Überfordertsein der Menschen. Und am Wirrwarr, das zwischen so unterschiedlichen Sprachen besteht«, bemühte sich die Münchnerin in Taiwans Diensten eine Erklärung zu finden, wobei sie die ganze Zeit ihre Hand sachte auf der Schulter des Jungen abgelegt hatte. Sicher nicht, um sich abzustützen, so dünn, wie der Junge war. Auch recht klein für einen Siebenjährigen, aber nicht kleinwüchsig. Klein halt. Und feingliedrig. Mit ängstlichem Blick, was nun wirklich kein Wunder war. Er trug einen viel zu großen Pullover, unter dem man sich das bißchen Haut und Knochen vorstellen konnte. Dabei war dieser Junge keinesfalls unterernährt, sondern bloß mager, wie nicht wenige Erstkläßler überall auf der Welt mager sind, selbst dann, wenn sie den lieben langen Tag Kuchen und Gummibärchen in sich hineinstopfen.

Ich fragte mich, ob das Absicht war, daß man ihn so angezogen hatte, Größe L, dicke Wolle, und das bei der Hitze. Ob man also versuchte, mir ein trauriges, kleines, mitleiderregendes, dauerfrierendes Geschöpf zu präsentieren. Denn in der Tat, ich fühlte mich wie im Waisenhaus oder im Tierschutzheim. Meinte man denn, ich würde das superreiche Taiwan mit dem superarmen Nordkorea verwechseln? Dünn mit verhungert? Am liebsten wäre ich sofort aufgestanden, um den Raum zu verlassen und mir das Elend nicht länger anschauen zu müssen. Freilich bestand das Elend in erster Linie in den erstaunlichen Fehlschlüssen, die dazu geführt hatten, daß man ein Kind, welches schon rein optisch nicht das meine sein konnte, nach Deutschland geflogen hatte. Oder stand dahinter gar ein Kalkül? Hatte sich irgendeine Bürokratie dumm gestellt? Oder alle zusammen?

Ich sagte:»Es muß doch einen Hinweis auf den richtigen Vater geben.«

«Wenn’s einen solchen gäbe, glauben Sie denn, man hätte den Jungen hierher gebracht?«

«Ach was, Sie immer mit Ihren Antworten!«beschwerte ich mich. Und beschwerte mich weiter:»Den Taiwanern trau ich auch zu, eins von diesen freilaufenden Parkäffchen nach Europa zu schicken, nur damit in Tainan ein Affe weniger ist, der Dreck macht und aus den Taschen der Touristen die Sachen klaut.«

Heinsberg schüttelte angewidert den Kopf und meinte:»Ich habe mich in Ihnen getäuscht, Herr Braun. Wenn Sie so reden, erkenne ich Sie nicht wieder. Simon ist kein Affe, und er ist auch kein kleiner Taschendieb.«

«So habe ich das nicht gemeint.«

«Nein?! Nicht?! — Nun, ich werde Simon jetzt zurückbringen. Nachher darf ich Sie zu meinem Vorgesetzten führen. Er möchte sich ganz offiziell für die Mühe, der Sie sich unterzogen haben, entschuldigen. Sinnlose Mühe, leider Gottes.«

Auch wenn Frau Heinsberg in keiner Weise Frau Dr. Senft ähnlich sah, so meinte ich dennoch eine große Verwandtschaft zwischen diesen beiden Frauen festzustellen. Nicht, daß ich hier und jetzt begann, mich in Frau Heinsberg zu verlieben, nur weil sie mir soeben das Leben schwermachte. Da hätte ich mich noch viel öfter verlieben müssen. Nein, das war es nicht. Doch je länger ich diese Frau betrachtete, um so mehr bekam ich den Eindruck, es handle sich um eine grundsätzlich angezogene Person, eine grundsätzlich bekleidete, eine niemals wirklich nackte. So, als wäre sie mit diesem Kleid, den leichten Sandaletten, dem silbernen Sternchen in ihrem rechten Nasenflügel und den blaugrün lackierten Fingernägeln bereits auf die Welt gekommen und all das mit ihr mitgewachsen. Ebenso lanamäßig empfand ich, wie Heinsbergs Hand fortgesetzt auf der Schulter des Jungen ruhte. So, konnte man sich vorstellen, war es, wenn ein Engel einen berührte. Ruhig, fast körperlos, aber effektiv. (Und seien wir doch ehrlich, auch Engel, zumindest erwachsene Engel, kann man sich eigentlich nur irgendwie bekleidet denken, oder?)

Genau diese Hand schob sie nun auf den Nacken Simons und lenkte ihn solcherart zurück zur Tür, durch die sie beide gekommen waren.

«Warten Sie!«rief ich.

«Ja?«Sie bog allein ihren Kopf in meine Richtung, zusammen mit dem Kind im Schritt erstarrend.

«Hören Sie. Ich weiß nicht, was man in dieser Situation eigentlich machen kann. Aber ich will nicht, daß Sie den Jungen zurückschicken.«

«Wenn Sie das nicht wollen«, meinte sie,»müssen Sie auch bereit sein, etwas für ihn zu tun.«

Erneut fragte ich:»An was denken Sie denn? Daß ich das Kind adoptiere? Ohne Ehefrau, ohne Lebensgefährtin?«

«Das deutsche Adoptionsrecht läßt so was zu. Auch Alleinstehende kommen in Frage. Und glauben Sie mir, vor allem die Behörde in Tainan würde alles tun, um in dieser verfahrenen Situation …«

«Abstrusen Situation«, wandte ich ein.

«Gleich, wie sie heißen soll, die Situation, man wäre sicher bereit, hier eine Lösung zu finden«, erklärte Frau Heinsberg.»Auch wenn dazu nötig ist, ein paar Regeln zu umgehen. Der ganze Prozeß läuft ohnehin jenseits des Üblichen.«

Aber wirklich! Gleichzeitig muß gesagt werden, daß trotz Haager Konvention ein reger illegaler Kinderhandel in der Welt kursierte, um die Kinderwünsche derer zu befriedigen, die anders nicht weiterkamen. Viel Schlimmes geschah, während ich selbst ja keineswegs alle möglichen Hebel und Schalter in Bewegung gesetzt hatte, um mir einen langgehegten Wunsch zu erfüllen. Nein, es war umgekehrt. Der Wunsch — wenn wir uns ihn als ein aktives, umtriebiges Wesen vorstellen — hatte sich mich ausgewählt. Ich war es, den er sich erfüllte.

Frau Heinsberg, diese Frau mit blaugrünen Fingernägeln und wächserner Haut, die wohl in Wirklichkeit einer höheren Institution als der taiwanischen Auslandsvertretung verpflichtet war, kam zusammen mit Simon zurück. Sie beugte sich seitlich zu dem Jungen hinunter, zeigte zu mir hoch und erklärte etwas auf chinesisch. Er schien sie aber nicht zu verstehen, möglicherweise sprach sie das falsche Chinesisch.