Ich antwortete mit einem» Nein!«, froh darum, die Wahrheit aussprechen zu dürfen. (Wenn der Mensch zwischen zweimal und zweihundertmal täglich lügt, stellt sich erst recht die Frage, wie oft er eigentlich am Tag die Wahrheit sagt und ob das nicht weit mehr wiegt als die hilflose Flunkerei, die unseren Alltag tapeziert — wobei wir ja gut darum wissen, daß es sich um eine Tapete handelt.)
Eine Wahrheit bestand nun leider auch darin, daß Kerstin, als sie nach München kam, vom Tod eines jungen Mannes erfuhr, mit dem sie eine platonische Beziehung geführt hatte. Wobei sich dieser Mann durchaus mehr gewünscht hatte. Er war in einer — wie man so sagt — unsterblichen Weise in Kerstin verliebt gewesen, während sie selbst seine Nähe geschätzt und nicht zuletzt ein zärtliches Gefühl für ihn empfunden hatte, aber ihre Liebe zu ihm war wie die zu einem Bruder gewesen. Das war schon Jahre so gegangen und mußte ihm eine Qual bereitet haben, eine Qual, um die Kerstin gewußt, die sie ihm aber auch nicht hatte ersparen können. Dennoch war für keinen von beiden eine Trennung in Frage gekommen. Zumindest keine profane Trennung.
Dieser junge Mann, Erich, hatte sämtliche seiner Antidepressiva in einem großen Glas Whisky aufgelöst, das Glas leer getrunken, sich ins Bett gelegt und sich die Pulsadern aufgeschnitten. — Herrje, ich würde vorher in Ohnmacht fallen, bevor ich mir mit einer Rasierklinge die Haut öffnen könnte.
Nicht so Erich. Er wollte auf diese Weise sterben und tat es auch. Der eigene Tod war das Gefäß, in dem die Unsterblichkeit seiner Liebe auch wirklich ewig fortdauern konnte. Und obgleich mir die Art seines Suizids Gänsehaut bereitete, konnte ich ihn dennoch verstehen. Wer, wenn nicht ich?
Eine Ironie des Schicksals bestand nun darin, daß, wenn man die Angaben der Polizei glaubte — und das tat Kerstin — , sich Erich in der exakt gleichen Stunde umgebracht hatte, als Kerstin und ich das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Nicht, daß Erich davon hatte wissen können. Wie denn auch? Nein, die Idee, sich das Leben zu nehmen, mußte schon länger bestanden haben. Die Verteilung seines Nachlasses war akkurat vorbereitet worden. Dazu eine aufgeräumte Wohnung, vier verschiedene Abschiedsbriefe fein säuberlich kuvertiert auf den Schreibtisch gelegt, gegossene Pflanzen, entleerter Müll. Und — allen Ernstes — Trinkgeld für die Leute des Bestattungsunternehmens. Vom vielen Blut einmal abgesehen, konnte man sagen, daß nur wenige Menschen — auch unter den Selbstmördern — so geordnet aus dem Leben schieden wie Erich.
Mit mir hatte das also nichts zu tun. Es war nicht Eifersucht gewesen, sondern unerhörte Liebe. Dennoch, der Umstand, daß die beiden Ereignisse — Erichs Tod und unsere Liebesnacht — so präzise zusammenfielen, machte Kerstin zu schaffen.
«Es ist nun mal so. Ich kann dir das nicht erklären«, sagte sie am Telefon und kündigte an, eine Weile allein sein zu wollen. Das sei sie Erich schuldig.
«Gar nichts bist du ihm schuldig«, erwiderte ich,»außerdem ist das jetzt wirklich zu spät.«
«Wofür ist es zu spät? Zu trauern? Oder meinst du, ich sollte ebenfalls ein Jahrzehnt damit warten?«
«Ich dachte eigentlich, du würdest mir genau dabei helfen. Mich in die Berge begleiten. Mich und Simon.«
«Das geht jetzt nicht.«
«Wir könnten gemeinsam trauern«, schlug ich hilfloserweise vor.
«Unsinn, Sixten. «Sie sagte es ganz sanft. Doch die Sanftheit war ein massiver Block. Keiner, den man bouldernd überwinden konnte. Und dann fügte sie an:»Gib mir Zeit.«
«Natürlich«, sagte ich. Und dachte mir:»Gegen einen Toten ist man chancenlos.«
Und das stimmte. Sowenig es Erich zu Lebzeiten gelungen war, vollständig und absolut in Kerstins Herz aufgenommen zu werden, so trauerte sie nun um ihn wie um die Liebe ihres Lebens. Der tote Erich schien sehr viel begehrenswerter als der lebende.
Nicht, daß Kerstin mich vergaß. Wir schickten uns Mails und telefonierten, und nach zwei Monaten sahen wir uns auch wieder, trafen uns auf halbem Wege zwischen Stuttgart und München, in Ulm. An einem für einen Reim und einen Dom berühmten Ort, was besser ist, als für seine Hooligans berühmt zu sein.
Ich hatte Simon mitgenommen, und er war sichtbar glücklich, Kerstin zu sehen. Ich meinerseits blieb auf Distanz, wollte ihr nicht zeigen, wie sehr ich litt. Das hatte ja Erich bereits versucht, sein Leiden offenbart, was ihm wenig genützt hatte. Leiden macht häßlich, wenn man kein Engel oder kein Hund ist oder nicht von Schiele oder Munch porträtiert wird.
In Ulm wirkte Kerstin abwesend. Sehr blaß und sehr dünn. Sie mußte in diesen zwei Monaten einiges abgenommen haben. Simon hielt ihre Hand, als hätte er die Teile dieser Hand gerade mit Uhu zusammengeklebt und traue sich nun nicht, sie wieder loszulassen. Er hatte bereits begriffen, daß die eigentliche Aufgabe der Kinder darin bestand, die Erwachsenen zu trösten. Auch wenn es umgekehrt sein sollte. Aber selbst wenn man eine schlechte Schulnote bekam, mußte man seinen Eltern begreiflich machen, daß das nicht das Ende der Welt sei.
Wir redeten nicht viel, saßen in einem Café, und jeder nippte an seinem Getränk. Ein paar belanglose Worte über die Arbeit und den Alltag. Kein Wort hingegen über Erich, der jedoch spürbar mit am Tisch saß. Vor allem meinte ich zu erkennen, wie sehr er triumphierte. Wie sehr es ihn befriedigte, ohne den Aufwand von Worten und eines Körpers Kerstin zu beherrschen. Sich in ihrem Kopf festgesetzt zu haben, so daß sie unfrei war. Unfrei, sich von mir auch nur anfassen zu lassen. Als ich es am Schluß dennoch versuchte, sie an der Schulter berührte und ihr einen Kuß auf die Wange gab, meinte ich ein Fossil zu küßen, einen Abdruck. Und zwar einen tiefgekühlten, tiefgekühlt, um zu verhindern, daß irgendeine uralte Seuche ausbrach.
Ulm ging vorbei. Aber die richtige Eiszeit begann erst. Ich durfte kaum hoffen. Eher war zu befürchten, daß Kerstin sich entschied, ins Kloster zu gehen. Sie trauerte wie eine ewige Witwe.
Ich haßte Erich. Und fragte mich, wie man einen Toten ausschalten konnte.
Der Haß hinterließ eine Spur in meinem Gesicht. Meine weiblichen Stammgäste im Bad Berg fragten mich.»Was ist los mit Ihnen, Herr Sixten? Sind Sie krank?«
«Gewissermaßen.«
Eine der Damen erklärte:»Was Sie brauchen, ist nicht Liebeskummer, sondern eine Frau. Ich meine, so blendend, wie Sie aussehen, kann doch der kleine Simon kein Hindernisgrund sein.«
Sie hatte es nicht böse gemeint. Aber so dachten die Leute nun mal.
Die Zeit verging. Wobei ich nicht begriff, daß sie für mich arbeitete, die Zeit. Sowenig es stimmte, daß die Zeit die Wunden heilte, war es aber so, daß mitunter mit der Zeit die Verursacher der Wunden verschwanden. Daß zum Beispiel die Toten das Interesse an den Lebenden verloren, daß jemand wie Erich keine Lust mehr verspürte, ständig als besitzergreifender Geist Kerstin zu umschwirren, täglich durch ihr Hirn zu wandeln und sie zu berühren.
Nicht Kerstin löste sich von Erich, sondern er sich von ihr. Das mochte sie schmerzen, noch mehr als sein Tod, aber es machte sie frei. Nach und nach.
Das alles dauerte ein ganzes Jahr.
Und dann geschah es, daß Kerstin mich aus München anrief und sagte:»Wir wollten doch zu diesem Berg fahren, um deiner Schwester Blumen zu bringen.«
«Gott, Kerstin, es ist lange her, daß wir das ausgemacht haben.«
«Na und? Warst du denn in der Zwischenzeit schon dort?«
«Nein, das nicht …«
«Was spricht dann dagegen? Das eine Jahr? Als ich sieben war, hat mir mein Vater einen Aquarellkasten geschenkt. Und als ich dann siebzehn war, habe ich zu aquarellieren begonnen. Manches dauert. Manches geschieht nie.«