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Ich konnte mir Kerstin aquarellierend gar nicht vorstellen. Ich fragte sie:»Willst du malen in den Bergen? Im Ernst?«

«Das wäre doch eine schöne Idee. Ich könnte es Simon beibringen. In der Natur malen ist zwar ein bißchen von gestern: Romantik, Biedermeier, Volkshochschule — aber es macht Spaß! Könntest du auch versuchen.«

Die Malerei war sowenig meine Sache wie das Klettern, das ich im vergangenen Jahr zwar betrieben hatte, ohne aber meine Angst verloren zu haben. Obgleich meine Technik sich etwas verbessert hatte, scheiterte ich fortgesetzt an jenen Stellen, die mir bedrohlich erschienen. Ich nannte sie die Im-Anblick-des-Tigers-Passagen. Immerhin hatte ich mir angewöhnt, im Seil zu hängen und mir die Tigerpassagen mehr anzusehen, als sie zu klettern. Der Umstand, daß in diesen Momenten der Knoten sich noch fester schloß, gab mir Sicherheit.

Man kann vielleicht sagen: Ich zählte eher zu den langsamen Kletterern.

Ganz anders Simon, der zwischenzeitlich an Wettbewerben teilnahm und als Wunderkind in der Szene galt. In einem Fachmagazin war er als» junger Mozart unter den Sportkletterern «bezeichnet worden. Das Faktum, daß er noch immer kein einziges allgemeinverständliches Wort sprach, schien eher den Mozartschen Genius zu bestätigen. Es war übrigens weiterhin Mick, der wort- und gestenreich Simon trainierte. Und ihn auch managte, nicht ohne Geschick, und auch ohne den Jungen zu verheizen. Mick war kein Leopold Mozart. Und ich erst recht nicht. Nein, ich hatte wenig damit zu tun, sondern ließ es einfach geschehen. Daß ich selbst hin und wieder kletterte, entsprach eher meiner Sturheit. Wie diese Leute, die seit Jahrzehnten ins Kasino gehen und noch nie etwas gewonnen haben und deren Spielweise allgemein als vertrottelt gilt.

Es war Ende August, als ich Kerstin vom Bahnhof abholte. Simon hatte ich bei der Nachbarin gelassen. Manchmal war mir wichtig zu sehen, wie ich ohne ihn wirkte.

Und da stand Kerstin, mager, aber hübsch mager. Sie wirkte weniger punkig als früher, trug ein geblümtes Sommerkleid und elegante, hohe Sandaletten im rötlichen Ton des Kleids. Der Gurt ihrer Laptoptasche durchschnitt den Rumpf und verlieh ihr die Wirkung eines Musketiers. Ich war etwas erstaunt, als ich die großen Koffer sah, die zwei Bahnbedienstete ihr halfen aus dem Zug zu befördern.

Sie streckte mir die Hand hin, sehr gerade, Abstand wahrend, aber ihr Lächeln war ein freundliches Versprechen.

Sie fragte mich:»Bist du mit jemandem zusammen?«

Stimmt, das hätte ja sein können. Aber ich schüttelte den Kopf.

«Gut. Kann ich bei dir wohnen?«

Ich schaute auf die drei gewaltigen Gepäckstücke und fragte sie, was genau sie plane. Denn im Grunde hatten wir ja bloß besprochen gehabt, das kommende Wochenende zu nutzen, um nach Tirol zu fahren und endlich, mit einjähriger Verspätung, Astris Berg aufzusuchen.

Kerstin sagte:»Ich habe meinen Job gekündigt. Und meine Wohnung in München verkauft. «Und dann, als hänge alles zusammen:»Und Erich hat einen neuen Grabstein bekommen.«

«Wie? Vom Geld, das du für die Wohnung gekriegt hat?«

Sie lachte.»Nein, so schlimm ist es nicht.«

«Soll das heißen, du gehst weg von München?«

«Ich bin schon weg von München«, sagte sie.»Ich bin hier. «Und auf die Koffer weisend:»Das ist mein ganzes Zeug. — Wenn du aber zuwenig Platz in deiner Wohnung hast …«

«Das kommt ein wenig überraschend.«

«Ich weiß. Aber du kannst ja nein sagen, und ich gehe ins Hotel. Ich habe nun ausreichend Geld.«

«Warum? Ich meine, warum jetzt?«

«Weil es jetzt einfach an der Zeit ist. Ich will mich verändern. Und wenn du einverstanden bist, kannst du ein Teil von dieser Veränderung sein. Wenn du nicht magst, dann nicht.«

«So einfach?«

«So einfach«, sagte sie.

Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, aber das wäre zu früh gewesen. Der Plan war ja nicht, erneut für eine oder zwei Nächte das Bett zu teilen. Der Plan war, wie Kerstin gesagt hatte, eine» Veränderung«.

Anstatt sie also zu umfangen und zu küssen und ihr meine in diesen zwei Jahren keineswegs verloschene Liebe zu erklären, griff ich nach zweien der Koffer. Kerstin nahm den dritten, und mit dem heftig knatternden Geräusch von sechs Rollen bewegten wir uns über den Bahnsteig jenes Stuttgarter Bahnhofs, den man stückchenweise demontiert hatte, wie bei einer vornehmen alten Dame, der man da und dort eine völlig gesunde Gliedmaße abtrennt und da und dort ein völlig gesundes Organ entnimmt. Aber sie stand noch immer, die alte Dame, gleich einem Lazarett ihrer selbst. (Ich sagte schon, daß mich das Politikum um diesen Bahnhof nicht kümmerte, aber als Bademeister des Bades Berg hatte ich nun mal ein Faible für vornehme alte Damen entwickelt.)

Am Abend saßen Kerstin, Simon und ich um den großen Küchentisch und legten ein Puzzle. Simon war ein großer Puzzlefan geworden (bevor er dann ein ebenso großer Fan des Brettspiels Go werden würde). Das Puzzeln war neben dem Klettern die zweite Sache, die er mit enormer Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit zu bewältigen verstand, auch dann, wenn er die Puzzleteile verkehrt herum auflegte, also ohne Bild, sich lediglich an den Formen orientierend. Dabei machte er aber keineswegs einen krankhaften Eindruck. Dennoch war da ein Wort, welches ihn gleich einem Planetenring ständig umkreiste: Asperger. Ein Begriff, der in Mode gekommen war und an viele Stellen gesetzt wurde, wo früher ein Fragezeichen gestanden hatte.

Sosehr Simon also von diesem ringförmigen Allerweltswort umlaufen wurde, puzzelte er am liebsten in Gesellschaft. Er erkannte die Bedeutung der Spiele, das Miteinander oder auch Gegeneinander. Klar, gerade ein Puzzle konnte man gut allein spielen, aber war es dann noch ein Spiel?

Das Aspergerkind Simon wollte nicht allein puzzeln. Zu spielen bedeutete, um ein Lagerfeuer zu sitzen. Das Puzzle loderte so schön.

Es waren Ferien, und Simon durfte länger aufbleiben. Blieb er auch. Doch wie so oft überkam ihn sehr plötzlich die Müdigkeit. Er sprach ein Wort aus, das für Schlafen stand, etwas, das sich wie» Bochs!«anhörte.

«Okay, geh bochsen«, sagte ich und drückte ihm einen Kuß auf die Stirn.

«Boxen?«fragte Kerstin.

«Na ja, vielleicht ist ja der Schlaf auch nur eine Art von Faustkampf, nicht wahr?«

Kerstin brachte Simon ins Bett und las ihm aus einem Buch vor. Wir würden wahrscheinlich nie erfahren, ob er diese Geschichten verstand oder nicht, oder ob eben allein der Akt des Erzählens den nun Neunjährigen beruhigte, weil ja nach dem Lagerfeuer die Glut kommt, das Glimmen. (Bevor dann tief im Schlaf der Fight beginnt.)

Nachdem die Erzählerin zurückgekommen war, schenkte ich Wein in unsere Gläser nach. Wir führten die Gläser zu einer klingenden Kollision und tranken.

«Das Wetter nächstes Wochenende soll ideal sein«, sagte Kerstin.»Ich meine in Tirol, in den Alpen, den Zillertaler Alpen. Wir müssen das nutzen. Erstens muß Simon bald wieder in die Schule. Und außerdem kann es dort oben auch ganz schön häßlich werden. Gewitter, Regen, früher Schnee.«

«Du hast dich informiert«, stellte ich fest.

«Ja, klar. Und vorher kauf ich mir noch gute Schuhe. Wenn man schon nicht schwindelfrei ist, sollte man vermeiden, dort mit Pfennigabsätzen hochzumarschieren, gell!«

Sie erzählte mir, was sie über den Berg und den Weg zum Berg gelesen hatte. Auch über den Tod Astris. Zudem sei sie im Netz auf einige Fotos meiner Schwester gestoßen. Kerstin sagte:»Im ersten Moment denkt man, daß sie dir gar nicht ähnlich sieht. Aber Simon, ja Simon, der sieht deiner Schwester ähnlich, finde ich. Während er aber wiederum — da hat die Freundin von deinem Kletterlehrer schon recht gehabt — auch was von dir hat. Vor allem die Augen, trotz des Unterschieds in der Form.«