«Meine Güte, Kerstin, du weißt doch gut, daß das esoterischer Schwachsinn ist.«
«Vielleicht. Aber wenn ohnehin der Schwachsinn die Welt regiert, in der Politik, in der Liebe, dann darf es ja auch mal ein romantischer Schwachsinn sein, oder? Einer, der uns verbindet.«
Ich gestand nun, schon mehrmals eine Ähnlichkeit zwischen ihr und Astri festgestellt zu haben.»Wir sind vielleicht alle eine Familie.«
«Dann wäre das jetzt aber Inzucht«, sagte sie, stand auf, setzte sich zu mir und begann mich zu küssen. Sie hörte gar nicht mehr auf.
Das Wort Inzucht war in diesem Moment mein eigener Planetenring.
21
Am nächsten Tag gingen wir zu dritt Schuhe kaufen. Und zwar in einen dieser Läden, wo der moderne Mensch für das Überleben in der Natur ausgerüstet wird. — Ich weiß, daß man nicht dauernd über den Fortschritt jammern soll. Der Fortschritt macht das Leben ja erst so bequem: Essen, das quasi fix und fertig aus einer hübschen Verpackung rutscht; die ganze Welt im Fenster eines immer noch schneller werdenden Elektronengehirns; Kriege, bei denen man nicht höchstpersönlich jemanden aufschlitzen muß, falls man das nicht möchte. Und irgendwann werden die Theaterkarten sprechen können und einem sagen, wenn man in der falschen Reihe sitzt. — Ist das schlecht? Wer wollte ernsthaft mit dem Mittelalter tauschen? Allein die Sache mit den Klosetts! Aborterker! Wenn darauf die Rede kommt, will keiner tauschen.
Andererseits konnte man sich gerade angesichts heutiger Outdoorprodukte die Frage stellen, inwieweit der Mensch nicht bloß ein Mittel zum Zweck war, ein Transportmittel. Denn obgleich er es ist, der unter eine Lawine gerät, sind es sodann der Lawinenairbag, die Lawinenweste und der Lawinenpiepser, die sich zu bewähren haben, die im eigentlichen Widerstreit mit den Mächten der Natur stehen. Der Piepser lenkt die Hilfskräfte, nicht umgekehrt. Wie ja auch der Schirm den Regen bekämpft und die Hautschutzcreme die Sommersonne.
Klar, immer schon hat der Mensch sich gewappnet, Schuhe getragen, um nicht barfüßig über spitze Steine laufen zu müssen, doch angesichts dieser nicht ganz billigen Trekkingschuhe fragte ich mich allen Ernstes, ob es vielleicht so war, daß all diese Gegenstände bloß den Teil einer gewaltigen Armee darstellten, die im Kampf gegen die Natur sich des Menschen bediente, den Menschen in parasitärer Weise nutzend.
Genau das sagte ich, lachte aber laut auf und meinte:»Früher hätte ich jemandem, der so daherredet, einen Besuch in der Klinik empfohlen.«
«Ach was«, meinte Kerstin,»so verrückt ist das gar nicht. Die meisten Leute überlegen, daß vielleicht alles umgekehrt ist. Warum, denkst du, handelt jeder zweite Film davon, die Welt sei ganz anders, als wir glauben?«
War ich enttäuscht? Enttäuscht, daß Kerstin meine Verrücktheit als bürgerlichen Allgemeinplatz abtat?
Ich griff nach einem Leichtwanderschuh aus beigem Veloursleder, einem Damenschuh, der weniger knallig war und sehr viel besser zu Kerstins Sommerkleid paßte. Doch der Verkäufer riet ab, nachdem er den Schwierigkeitsgrad unserer geplanten Wanderung bewertet hatte. Das weinrote Modell, welches er in der Folge brachte, war aber gleichfalls recht hübsch.
Ich sagte:»Super! Den nehmen wir.«
«Eigentlich suche ich mir in der Regel meine Schuhe selber aus«, erklärte Kerstin.»Oder denkst du, weil ich ein paar Jahre jünger bin, bin ich ein Kind?«
«Gott, nein, ich wollte …«
Ja, was?
Es war mir einfach wichtig, daß Kerstins Hübschheit auch beim Wandern ungebrochen blieb und sie nicht etwa in so einer Robotermontur alles Liebliche einbüßte und zu einer mit einer synthetischen Wolfshaut überzogenen Wandermaschine mutierte. Aber sie hatte natürlich recht, ich war weder ihr Vater noch ihr bezahlter Modeberater.
Um so peinlicher, noch eins draufzusetzen und zu erklären:»Ich hab’s nur gut gemeint. «Genau das eben, was Eltern so gerne sagen. Ich bereute es auch gleich und wollte schon zu einer erneuten Entschuldigung ausholen, als Kerstin meinte, ich hätte ja recht, die Weinroten seien ideal, die könne man später auch auf einer Party tragen.
Offenkundig plante sie nicht, von nun an ständig auf Berge zu marschieren, sondern eben nur auf diesen einen: den Astri-Berg.
Auch Simon und ich benötigten geeignetes Schuhwerk, da wir uns bisher einzig und allein auf künstlichen Bergen bewegt hatten, nicht wandernd, sondern kletternd. Simon bekam flotte Outdoorsandalen sowie ein geschlossenes Paar, während ich selbst mich für einen Wanderhalbschuh entschied, der den Namen» Paris «trug, wobei ich jetzt nicht wußte, ob sich das auf die Stadt oder auf den Typen mit dem Apfel bezog. Jedenfalls gefiel mir der rotbraune Ton, der mit dem Weinrot von Kerstins Modell eine schöne Verbindung einging. Simons schnittige Sandalen erinnerten schon eher an robotische Gestaltwandler, wie man sie aus dem Film Transformers kannte, nur daß sie nun halt nicht mehr als Sportwagen und Trucks herumliefen, sondern sich in weit unauffälligerer Weise unter die Menschen gemischt hatten. Schuhe statt Chevrolets.
Wir kauften noch Regenjacken für alle Fälle sowie zwei Wanderstöcke für mich und Kerstin. Simon aber wünschte sich eine Skibrille. Ich versuchte ihm zu erklären, daß eine luftige Sonnenbrille in dieser Jahreszeit passender wäre, und zeigte auf ein Regal mit dementsprechenden Produkten. Doch der Junge blieb stur, beließ seine Hand auf dem breiten schwarzen Rahmen mit der khakifarbenen Scheibe. Allerdings war ich entschlossen, nicht jedem seiner Wünsche nachzukommen, bloß weil er ein» besonderer «Mensch war. Ich erklärte ihm, daß wir nicht vorhätten, in den Himalaja zu reisen, zeigte auf die Skibrille und sagte:»Nein!«Ich forderte ihn auf, hinüber zu den schicken Kinderbrillen zu wechseln und sich dort eine auszusuchen.
Er aber blieb stehen. Ich sah die Träne, die aus seinem Augenwinkel trat, eine Spur ziehend, wie ein winzig kleiner Skifahrer, der den steilen Abhang ein kurzes Stück abwärts fährt und abrupt bremst.
«Ich hasse Tränen«, sagte ich laut.»Tränen sind unfair.«
Ich redete mehr zu mir selbst. Doch Kerstin kam herüber und meinte:»Meine Güte, kauf ihm doch die Skibrille. Oder soll ich?«
«Es geht doch nicht ums Geld. Er soll einfach nicht alles kriegen, was er will. Und dann auch noch die Heulerei als Druckmittel einsetzen.«
«Er heult nicht«, sagte Kerstin.»Er weint. Und zwar ziemlich zurückhaltend, finde ich.«
Ich haßte nicht nur Tränen, sondern auch die Toleranz jener, die im speziellen Fall keine Verantwortung trugen. Die mit den Kindern nie zum Zahnarzt mußten, aber ständig meinten, es würde doch auf das eine oder andere Bonbon nicht ankommen. Nun, es kommt auf den einen oder anderen Müllberg auch nicht an, aber die Müllberge zusammen sind dann doch ein Problem. Genau das sagte ich zu Kerstin.
«Na, ein Bonbon kann man vielleicht mit einem Müllberg vergleichen«, gab sie zurück.»Aber eine Skibrille ist doch etwas anderes. In erster Linie nützlich. Und vielleicht hat Simon einen guten Grund, sich genau die zu wünschen.«
«Jetzt im Sommer?«
«Jetzt im Sommer. Möglicherweise weiß er was, was wir nicht wissen.«
Ich gab auf. Ich sagte:»Okay.«
Sofort kehrte ein Lächeln in Simons Gesicht ein. Die Träne war nur noch ein Schimmer von blassem Silber.
Was ich folgendermaßen kommentierte:»Also, das Wort okay versteht er ganz gut, mein kleiner Sohn.«
«Komm, das hätte jetzt sogar ein Marsianer verstanden«, fand Kerstin.»Wie du zuerst seufzt und leidest und dich windest und dann halt mit der Schulter zuckst und nachgibst.«