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«Was willst du mir eigentlich sagen, Kerstin?«fragte ich.

«Weiß nicht … vielleicht, wie sehr ich es mag, wenn du kapitulierst. Wenn du weich wirst.«

Ich schnaufte und grinste und vollzog eine ironische Körperbewegung, die das Wort» weich «illustrierte.

Einen Tag vor der geplanten Fahrt nach Tirol ging ich mittags mit Simon zum Italiener. Er liebte Spaghetti, nicht allein den Geschmack, sondern auch das Ritual des abenteuerlichen Verzehrs: der Länge der Nudeln Herr zu werden.

Wir waren ohne Kerstin, die sich mit einer Freundin traf oder mit einem Freund, mit jemandem aus Schultagen, der jetzt in Stuttgart lebte, wie sie mir sagte. Aber nicht, um wen es sich handelte und ob die Beziehung zu dieser Person über das gemeinsame Lernen und gemeinsame Schummeln hinausgegangen war. Ein kleiner Stich von Eifersucht plagte mich. Wieso auch diese Heimlichtuerei?

Wir nahmen an dem Ecktisch des kleinen Restaurants Platz und wurden vom Patron persönlich begrüßt. Ich kannte das Lokal seit den Tagen, als ich nach Stuttgart gekommen war. Es lag unweit meiner Wohnung. Man konnte sich hier ganz tief ins Italienische eingegraben fühlen: diese so ungemein nonchalant inszenierte Aufgeregtheit, die Art, wie anstatt einer Speisekarte die Gerichte des Tages mündlich vorgetragen wurden (ich verstand auch nach Jahren kaum, wovon die Rede war und war in diesem Nichtverstehen ganz eins mit Simon) und ich dann stets zwei Portionen Spaghetti aglio e olio bestellte. Doch niemals wäre der Wirt auf die Idee gekommen, die wortreiche Beschreibung der Gerichte auszulassen, zudem hörten wir jedes Mal mit Begeisterung zu, so, als würden wir einer sehr kurzen Oper lauschen.

Als ich mit Simon für einige Tage in Italien gewesen war, hatte ich mit Schrecken festgestellt, wie wenig das tatsächliche Italien an das Italien dieses Stuttgarter Restaurants herankam. Dort waren wir blöde Touristen, die man ohne Scham und Stil beschiß, hier aber willkommene Freunde. Die meisten der anderen Gäste waren Italiener, die alle — nicht nur die Alten — einen Hauch von Marcello Mastroianni verströmten: eine Ungeschicklichkeit, die sich in eine bezaubernde Revuenummer verwandelt hatte. Ein Stolpern als perfekte Form. Die Italiener in Italien wirkten dagegen wie Fälschungen, wie ein großangelegter europäischer Betrug. Eine Klischeemaschine statt einer Kaffeemaschine. So gesehen, war Berlusconi wirklich der richtige Mann. Der Richtige im Falschen.

Übrigens saßen Simon und ich stets nebeneinander, nie einander gegenüber. Wie ein altes Ehepaar hockten wir da, beobachteten die Hereinkommenden oder sahen hinüber zum Stammtisch, wo vor allem Männer in Overalls und zwei, drei Anzugträger mit spitzen Schuhen zusammentrafen. Mitunter nahm Simon einen Zeichenblock heraus und verfertigte Graphiken, die durchaus an seine eigene Sprache erinnerten: abstrakte Formen und Muster, die jedoch den Verdacht nahelegten, gar nicht wirklich abstrakt zu sein, sondern nur für den, der ihren Ursprung nicht kapierte. Was freilich für jede Abstraktion irgendwie gilt.

Kamen die Spaghetti, legte Simon die Stifte zur Seite, griff nach der Gabel und begann nun, eine einzelne Nudel aus dem öligen Nudelberg zu ziehen, sie hoch in die Luft zu heben, eines der Enden zwischen die Lippen zu fügen und sie sich sodann laut saugend und in einem einzigen langen Zug einzuverleiben. Man konnte meinen, er ziehe die Teigschnüre im Mund zu Spiralen zusammen, zu Unruhen. In der Folge kaute Simon ein wenig, schluckte, dann angelte er sich die nächste. Nach einigen auf diese Weise verspeisten Spaghetti besaß sein Mund einen öligen Glanz, nicht nur die Lippen, sondern auch Kinn, Wangen und die kleine Nische, die zur Nase hochführte. Sein Gesicht sah dann aus wie ein halb gefirnißtes Gemälde. Ab und zu unterbrach er das Essen, um über den Teller zu langen und an seiner Zeichnung weiterzuarbeiten. Was ich eigentlich hätte verbieten müssen, wie man beim Essen das Fernsehen verbietet, andererseits heißt es ja immer, man solle während der Nahrungsaufnahme Pausen einlegen, um der Verdauung Zeit zu geben. — Man kann nicht alles haben. Weshalb ich ihn gewähren ließ.

Jedenfalls liebte ich diese Momente des Zusammenseins. Und genehmigte mir auch gerne ein Glas Wein, einen Mittagswein, was natürlich die Einstiegsdroge zum Alkoholismus war, bevor schließlich der Vormittagswein oder gar der Frühstückswein oder Vorfrühstückswein einen wahrhaftigen Trinker aus einem machte. Was keineswegs mein Plan war. Vor allem wegen der Figur. Immerhin besaß auch der Alkohol seine Schokoladenseite.

Allerdings empfand ich den Zustand, den der Mittagswein nach sich zog, als höchst angenehm: als hätte die Schwerkraft leicht abgenommen — nicht so stark wie auf dem Mond, man brauchte sich also nicht als dick eingepackter Astronaut zu fühlen. Aber da war eine Verzögerung, eine feine Leichtigkeit, eine Welt, die weniger wog. Und der es guttat, daß sie weniger wog.

Mitunter nahm ich einen solchen Mittagswein auch zu mir, wenn ich meine bademeisterliche Tätigkeit ausübte, was natürlich verboten war. Wäre jemand ertrunken und man hätte gleichzeitig festgestellt, daß ich … Na ja, ich tat so was auch nur im Winter und Herbst, wenn die Alten im Wasser waren, die alle exzellente Schwimmer waren und auf dem Wasser ein sehr übersichtliches Badehaubenmuster bildeten. Kaum Risiko. Es war nur wichtig, daß niemand es roch, wenn ich trank, weshalb ich mir als Konsequenz solch milder Sedierung immer einen Schuß Mundspray verabreichte.

Was freilich bei unserem Stammitaliener nicht geschehen mußte. Ich nippte ganz sorgenfrei an meinem Glas und drehte dann wieder meine Gabel durch das Nudelwerk. Simon setzte noch einige Striche und rätselhafte Piktogramme aufs Papier und kehrte dazu zurück, in Chaplinscher Manier eine Nudel nach der anderen einzusaugen.

Während wir aßen, läutete mein Handy. Es war Kerstin, die wissen wollte, ob wir uns nicht in der Staatsgalerie treffen könnten, die an diesem Tag bis acht Uhr am Abend geöffnet hatte. Kerstin sagte:»Es gibt dort eine Skulptur von Picasso, die ich nur von Abbildungen kenne und schon lange mal sehen wollte.«

«Du magst Picasso?«fragte ich.

«Warum überrascht dich das? Paßt das nicht zu mir?«

Nun, ich war tatsächlich etwas erstaunt. Wenn schon Kunst, dann hätte ich eher gedacht, sie würde so ein zeitgenössisch-flippiges Damien-Hirst-Zeug mögen: in Alkohol eingelegte Haie. Beinahe hätte ich gesagt:»Bist du nicht etwas zu jung für Picasso?«

Na, das hätte ich mich selbst fragen können.

Aber es war in Wirklichkeit etwas ganz anderes, was mich beschäftigte und was ich nun auch aussprach:»Bist du denn schon fertig mit deinem Freund?«

«Es ist jetzt kurz nach zwei«, sagte sie.»Also, wenn wir uns um sechs im Museum treffen, habe ich ja noch ein paar Stunden. Das paßt auch für mehr als einen raschen Fick. Mach dir keine Sorgen um mich.«

Einen Moment war ich erstarrt. Mein Mund offen wie bei einem toten Fisch.

Sie fragte:»Warum schnaufst du so laut?«

«Ich …«

«Komm, laß dich nicht ärgern von mir. Es ist eine Freundin, mit der ich zusammen bin. — Aber ich mag es, wenn du eifersüchtig bist. Ehrlich! Das ist süß.«

«Picasso also!«fand ich meine Sprache wieder.»Picasso um sechs.«

«Genau. Ich liebe dich.«

Sie legte auf, bevor ich reagieren konnte. Es war das erste Mal, daß sie in dieser definitiven Weise von Liebe gesprochen hatte.

Ja, ich liebte sie auch. Ein Lächeln strich über mein Gesicht wie bei einer Eklipse. Es war also nicht mein eigenes Lächeln, sondern das von jemand anderen: das Lächeln eines Monds.

Um sechs stand ich vor Picassos Badenden, einer Gruppe überlebensgroßer schlanker Stelen, die auf einem Kiesbett plaziert waren. In meinen Augen erinnerten die Badenden eher an ein kleines Orchester, das ein letztes Mal innehielt, bevor es ins Wasser ging. Ich dachte an diese Musiker aus Titanic.

Simon befand sich bereits einen Raum weiter und stand gebannt vor einem Mädchentorso aus rotem Stein, einem Mädchen mit sehr schlanker Taille und vollen runden Brüsten mit geradezu unnatürlich großen Brustwarzen, was auf der dazugehörigen Erklärungstafel verschämt als» plastische Akzentuierung der Teilformen «beschrieben wurde.