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Mir war nicht ganz wohl dabei, wie nahe Simon an der Figur stand. Und auch der Museumswärter war herangetreten und beobachtete den Jungen, wie um rasch eingreifen zu können, für den Fall, daß er …

Ja, was? Nach den Brüsten griff?

Ich rief nach ihm. Aber er rührte sich nicht, bloß der Wärter sah zu mir herüber. Nicht unfreundlich, eher besorgt. Besorgt um das Kind wie um die Plastik.

Das war schon das Besondere an der Kunst, diese beträchtliche Kühnheit. Klar, Nackte gab es auch in Heftchen und auf Titelseiten, aber die dortige Offenheit war eine befangene. Nicht aber in einem Museum, wo die Nacktheit so unverhüllt daherkam wie der Tod. Der tote Christus und pralle Brüste in einem Raum! Hier war das möglich.

Gerade wollte ich losgehen, um Simon wovon auch immer abzuhalten, als ich eine Hand auf meinem Rücken spürte, Kerstins Hand. Und gleich darauf ihre Stimme an meinem Ohr:»Wenn man hier hereinkommt und dich sieht, könnte man meinen, du gehörst zur Skulptur.«

«Ach!«gab ich von mir.»Schaue ich denn aus wie von Picasso gemalt?«

«Das nicht. Aber doch so, als hätte dich ein anderer Künstler nachträglich dazugestellt. Um den Picasso zu ergänzen.«

«Du meinst, ich bin so eine Art fotorealistische Plastik.«

«Nein, nein, du bist, wie du bist, aber als Kunstwerk. Als Vervollständigung eines Picassos. Eines wirklich schönen Picassos, finde ich.«

«Lieb von dir«, sagte ich, eher ein Kompliment als einen Scherz annehmend.

Kerstin hängte sich in meinen Arm ein, ließ ihren Kopf auf meine Schulter fallen und fragte:»Wo ist Simon?«

«Dort drüben, bei dem Mädchen.«

«Mädchen?«Sie bog den Kopf nach hinten und schaute an meinem Rücken vorbei in den Nebenraum.»Das ist ein Lehmbruck.«

«Was?«

«Die Skulptur. Wilhelm Lehmbruck.«

Ich sagte» Schau mal an!«und fragte sie, was es eigentlich mit ihr und der Kunst auf sich habe, so wie man jemanden fragt, wieso er denn für kleine, weiße Pudel schwärme.

«Unerfüllte Liebe«, sagte Kerstin.

«Wieso?«

«Ich hab versucht, Malerei zu studieren. Aber die wollten mich nicht.«

Ich gab zu bedenken, daß es einigen sehr berühmten Leuten genauso ergangen sei. Daß man die zuerst auch nicht wollte.

«Ja«, meinte Kerstin seufzend,»manche werden mit der Ablehnung stärker. Die meisten aber brechen zusammen. Ich bin zusammengebrochen.«

«Das paßt gar nicht zu dir«, stellte ich fest.

Sie sagte:»Täusch dich nicht, ich habe eine dünne Haut. Nicht viel dünner als der Durchschnitt, aber dünn genug. Wenn man mit einer Mappe voller Zeichnungen durch die Gegend rennt, in die Akademie, in die Galerien, und immer diese mitleidigen Gesichter sieht, das hält man nicht lange aus. Da kommt dann der Moment, da ist man lieber Kellnerin als Künstlerin.«

Ja, was wußte ich eigentlich von ihr? So gut wie nichts. Sie war ja logischerweise nicht als Taipeh-Sekretärin auf die Welt gekommen. Doch ihre Liebe zur Kunst irritierte mich noch immer. Mit einem einzigen Blick einen Lehmbruck zu erkennen. Zugleich machte es mich traurig, daß sie offenkundig aufgegeben hatte. Aber in der Tat schien es das wesentlichste Merkmal der wirklichen Künstler zu sein, einfach nicht aufzuhören. Die Kunst kam vom Weitermachen.

«Was tut der denn da?«fragte Kerstin.

«Simon?«

«Nein, nicht Simon. Der Museumswärter?«

«Nun ja, er scheint aufzupassen. Vielleicht, weil er Angst hat, Simon könnte den Lehmbruck anfassen.«

«Komm, laß uns hingehen.«

Das taten wir. Gleich, als wir neben Simon zu stehen kamen, vollzog der Aufpasser auf seinen Schuhabsätzen eine kleine Drehung und entfernte sich.

Kerstin und ich schauten nun auf Simon hinunter, schauten auf sein Schauen, auf seine gespannte Haltung, wobei sein Blick nicht auf den vollen, glatten Busen gerichtet war, sondern auf das Gesicht der Dargestellten.

Simons Mund öffnete sich. Und es war nun das erste Mal — das wirklich allererste Mal! — , daß Simon etwas von sich gab, das ich auf Anhieb erkannte und verstand. Er sagte:»Lana.«

«Mein Gott«, wandte ich mich so aufgeregt wie flüsternd an Kerstin.»Hat er Lana gesagt?«

«Hundertprozentig«, versicherte Kerstin.»Kein Zweifel. Der Name seiner Mutter.«

«Aber er war erst ein Jahr alt, als sie starb«, erinnerte ich.

«Na, du kannst davon ausgehen, daß seine Pflegemutter ihm von seiner richtigen Mutter erzählt hat, ihm bestimmt auch Fotos gezeigt hat. Das wäre nicht weiter verwunderlich. Natürlich kennt er ihren Namen.«

Ich erwiderte, daß dieses Gesicht hier, dieses Lehmbrucksche Mädchengesicht, in keiner Weise an Lana Senft erinnere.

«Dich nicht«, meinte Kerstin.»Simon schon. Und wer weiß, vielleicht ist es eine bloße Vorstellung von seiner Mutter, die er sich jünger denkt, als sie bei seiner Geburt gewesen ist. Da gibt es einige Möglichkeiten, sich so was zu erklären.«

Wir standen noch eine ganze Weile so da. Simon sprach kein Wort mehr. Ich versuchte seinen Blick zu deuten, etwas wie ein Wiedererkennen, eine Freude oder Trauer zu gewahren. Doch sein Blick wirkte starr, und in seinen Augen spiegelte sich derart das Rötelrot des Steingusses, daß ich nun einen ähnlichen Eindruck hatte, wie ihn kurz zuvor Kerstin mit mir erlebt hatte: wie sehr nämlich Simon Teil des Kunstwerks war, in ihm wie in einem freundlichen Gefängnis steckte.

Folglich war es nötig, Simon aus dem Bannkreis dieses Kunstwerkes mit ein wenig Druck zu entfernen, ihn aus der Aura des Torsos herauszuholen. Aus der Kunst zu befreien.

Als wären wir auf dem Rummelplatz, sagte ich:»So, genug davon. Jetzt gehen wir was trinken.«

Dabei schob ich ihn ein wenig an. Er protestierte nicht, aber im Weggehen wandte er sich noch mehrmals nach der Figur um.

Nach dem Besuch des Museumsrestaurants fuhren wir nach Hause, und ich schickte Simon gleich ins Bett. Es war reichlich spät, und immerhin würden wir am nächsten Tag unsere Reise nach Tirol antreten, unsere Fahrt in Richtung auf den Astri-Berg.

Die Taschen waren gepackt. Unser Wagen mit einer online bestellten österreichischen Vignette ausgestattet. Simon schlief. Kerstin hatte sich mit einem Glas Wein vor den Fernseher gesetzt und döste vor einem Tatort dahin. Ich selbst saß am Computer, befand mich auf der Website der Staatsgalerie und hatte Lehmbrucks Darstellung eines sich umwendenden Mädchens aus dem Jahre 1914 aufgerufen. Ich starrte auf die Figur und versuchte eine Ähnlichkeit zu Lana herauszulesen. Es gelang mir nicht. Eher dachte ich an Astri. Die Schwermut in diesem feinen, schmalen, aber im Vergleich zum Rest des Körpers unfertigen Antlitz.

Aber wahrscheinlich hatte Kerstin recht. Die Kunst war frei. Und zwar in dem Sinn, daß jeder darin sehen durfte, was er sehen wollte und konnte. Der Mädchentorso war für Simon ein Abbild seiner Mutter, für mich ein Abbild meiner Schwester. Und für Kerstin schlichtweg ein Meisterwerk von Lehmbruck.

Nach Mitternacht ging ich ins Bett, legte mich zu Kerstin und preßte mich an ihren warmen Rücken. Ich war wie ein Telefonhörer, der aufgelegt wird. Endlich Ruhe!

22

Ich war noch nie ein guter Autofahrer gewesen. Vielleicht auch, weil ich so rasch nach Abitur und Führerschein vom Fahrenden zum Fliegenden geworden war, bis zu dem Moment, da ein heftiges Gewitter meinem Unverkrampftsein bei Luftreisen ein Ende gesetzt hatte. Als ich dann nach Stuttgart gezogen war und damit auch entschieden hatte, die räumlichen Bewegungen auf das Mindestmaß meiner Bademeisterexistenz zu beschränken, hatte ich mich zum Nutzer des öffentlichen Verkehrs gewandelt. Zwar besaß ich einen Wagen, aber der verbrachte die meiste Zeit auf einem gemieteten Standplatz. Es handelte sich um den Opel meines Vaters, den er mir geschenkt hatte, wobei … nun, ursprünglich war der Wagen ein Präsent von mir an ihn gewesen. Doch gleichzeitig mit dem Verlust meines Vermögens am Ende meiner Ehe mit Lydia, und damit auch am Ende meiner Beziehung zu Wallace & Gromit, hatte sich bei meinem Vater eine Augenkrankheit eingestellt. Etwas Schleichendes, schleichend und unabwendbar. Jedenfalls war es sinnlos geworden, den Opel zu behalten, weshalb mir mein Vater den Wagen mit nach Stuttgart gab, nicht ohne den Hinweis, dies sei ja ohnehin die ultimative Autostadt. Faktum war freilich, daß ich mich scheute, das Ding zu benutzen. Mir fehlte die Routine, und im Grunde stand der Wagen sehr sicher auf seinem Parkplatz. Es war perfekt, weil ich das Vehikel niemals umzustellen brauchte, perfekt auch, weil er nicht etwa in einer dunklen Garage verkümmerte, sondern im Licht des Tages und unter den Sternen des Nachthimmels sein Leben lebte.