«Artgerecht ist das aber nicht«, werden jetzt einige Leute einwenden. Das stimmt sicherlich. Andererseits kann es einem Wagen lieber sein, an einer bestimmten Stelle gut zu stehen, als an verschiedenen Orten schlecht gefahren zu werden. Auch wusch ich ihn regelmäßig. Klar, er kam auch hin und wieder zum Einsatz, etwa, wenn ich einen Ausflug in die nähere Umgebung unternahm, vornehmlich auf die Schwäbische Alb, die vor Urzeiten bis nach Stuttgart reichte, als Stuttgart noch lange nicht existierte. Es scheint, als sei die Alb vorsorglich auf Distanz gegangen. Wie sich jemand scheiden läßt, der noch gar nicht verheiratet ist. So zu handeln, das würde eine Menge Leute retten.
Nun aber stand nicht der kurze Weg zur Alb auf dem Programm, sondern der etwas längere hinunter zu den Alpen (ich sage» hinunter«, weil mein geographisches Bewußtsein, wie das der meisten Menschen, von einem Schulatlas geprägt ist).
Aus praktischen Gründen — wegen der Ausrüstung und einer gewissen Flexibilität — hatten wir uns gegen die Bahn und für das Auto entschieden. Nur daß auch Kerstin keine begeisterte Autofahrerin war und sich damit rausredete, dieser Opel sei immerhin mein Opel, und Männer würden sich bekanntermaßen schwertun, Frauen beim Fahren zuzusehen.
Ich sagte ihr, das sei ein Klischee.
Sie sagte:»Ja.«
Ich fuhr.
Immerhin war das Wetter ideal. Leicht bedeckt, so daß keine Sonne blendete, aber auch frei von Regen, welcher sich ungut zwischen den Opel und die Fahrbahn hätte drängen können.
«Fahr nicht so schnell«, bat Kerstin.
Sie hatte recht. Ich war zu rasch unterwegs, wie um die Strecke schleunigst hinter mich zu bringen, und in der Hoffnung, die Unsicherheit verliere sich in der Rasanz. Wohl der häufigste Irrtum auf dieser Erde.
Ich bremste etwas herunter. Kurz darauf bog ich auf einen Autobahnrastplatz ein. So einen mit einer Toilette aus Sichtbeton und einigen Mülleimern und herumstehenden Wurstbrotessern und Zigarettenrauchern. Und dahinter einem kleinen Wald. Zwischen den dichten Blöcken von Verkehrslärm hörte ich das Rauschen der im Wind aufeinanderschlagenden Blätter. Eine nicht endende Ovation derer, die sich selbst beklatschen.
Simon lief umher, ganz in der Art seiner Altersgenossen, eingeschlossen in seine Phantasie, Unsichtbares jagend und von Unsichtbarem gejagt. Dazu gab er Kampfgeräusche von sich, Geräusche von Flugmaschinen, sich lösenden Torpedos, explodierenden Sternen und unter Schwerthieben gebeugten Zyklopen oder Romulanern, oder wer da auch immer gnadenlos niedergestreckt wurde und dies ganz sicher verdiente.
Kerstin und ich hatten uns ans Ende eines Tisches gesetzt, dessen hölzerne Fläche patiniert war von verschütteten Säften und der Asche toter Zigaretten. Wir saßen uns gegenüber und hatten eine Tupperwareschüssel zwischen uns, darin griechischer Salat, in dem wir herumstocherten, wie um das Vorurteil der häßlichen Deutschen zu bestätigen, die mit spitzen Gabeln eine uralte Kultur traktieren.
Eher aus dem Nichts heraus fragte ich Kerstin, ob sie denn die Malerei wirklich völlig aufgegeben habe. Ich konnte mir das nicht vorstellen.
«Warum kannst du das nicht?«
«Kann man denn eine Leidenschaft beenden?«fragte ich. Und meinte noch:»Öffentlich sicher. Aber im geheimen hört man doch nicht auf … Ehrlich! Im geheimen wird weitergemalt und weitergedichtet und weitergeliebt, oder?«
«Willst du mir auf diese Weise sagen, daß dein Herz noch immer für Simons Mutter schlägt und daß da kein Platz ist für jemand anders?«
Verdammt, war es das, was ich sagen wollte?
Ich erklärte:»Jetzt bist du aber eifersüchtig. Gut so, dann gleicht sich das wenigstens aus. Dann sind wir beide eifersüchtig. — Aber das ist keine Antwort, ob du noch malst oder nicht.«
«Na, deine Antwort ist aber auch keine«, meinte Kerstin.
Stimmt. Eine Weile schwiegen wir.
Dann wechselte Kerstin das Thema und fragte mich, wieso Astri ohne Begleitung auf diesen Berg gestiegen sei. Warum sie das Risiko eingegangen sei, solo zu klettern.
«Das war bei ihr die Regel«, sagte ich.»Natürlich, in der Kletterhalle war sie gezwungen, sich von irgendeinem Freund sichern zu lassen. Draußen aber, am Berg … Wo sie allein sein konnte, da war sie auch allein. Das hat übrigens für fast alles gegolten. Ich will mal so sagen: Selbst wenn sie hin und wieder eine Beziehung hatte, war sie lieber mit sich selbst zusammen.«
«Na, wenn man manche Typen anschaut, braucht das kaum zu wundern.«
«Ja, aber bei ihr war das keine Frage hoher Ansprüche. Eher war es so, als wäre sie … ich sage jetzt mal, eine Seelilie und das Zusammensein mit Menschen irgendwie abartig. Weil’s aber sonst kaum Seelilien in ihrer Umgebung gab, ist sie oft allein geblieben.«
«Eine kletternde Seelilie? Ich meine, die leben im Meer, oder?«Kerstin hob ihre Brauen, die übrigens so aussahen, als würde sich Kerstin zumindest an dieser Stelle durchaus malerisch betätigen. Aber im eigenen Gesicht war schließlich jede Frau eine Künstlerin. (Und wenn das ein Klischee ist, welches wäre keines?)
Richtig, anstatt Astri als Seelilie zu bezeichnen, hätte ich sie eigentlich mit einem alpinen Tier vergleichen müssen. Doch der Begriff gefiel mir einfach, zudem dachte ich an die vielen hübschen Versteinerungen fossiler Stachelhäuter.
«Also gut«, sagte Kerstin, wollte jetzt aber wissen, ob dies gleichfalls für meine Eltern gelten würde, daß nämlich auch sie Seelilien seien und es darum zwischen meiner Schwester und ihnen soviel inniger zugegangen sei.
«Nein«, sagte ich,»auch wenn sie Astri geliebt haben, so richtig verstanden haben sie sie genausowenig … Wie die meisten anderen Eltern wollten sie auch nur, daß ihre Tochter mal heiratet und Kinder kriegt — oder zur Not halt berufstätig ist und heiratet und Kinder kriegt. Klar, dem Vater hat das mit der Bergsteigerei gefallen, aber die Ausschließlichkeit, mit der sie das getan hat, hat ihn dann doch verstört. Ich sag mal so: Meine Eltern haben sich davor gefürchtet, ihre Tochter sei nicht ganz normal. In mehrfacher Hinsicht.«
«Sexuell nicht normal?«
«Zum Beispiel. Sie hat zuletzt ihre Wohnung mit einer Frau geteilt. Aber die war genauso asexuell wie Kerstin. Darum waren die beiden ja zusammen, um die Miete zu teilen, aber nicht das Bett. Vielleicht mochten sie sich auch. Wie man Dinge mag, die man nicht anzufassen braucht, um sie zu mögen. So was wird schwer verstanden heutzutage, wo uns jede noch so schräge Perversion näher ist, als wenn jemand keinen Sex will.«
«Ich mochte auch lange keinen.«
«Sag jetzt aber nicht, ich hätte dich geheilt. «Ich zwinkerte ihr zu.