«Nein, geheilt hab ich mich selbst. — He, wo ist eigentlich Simon?«
Ich schaute mich um. Auf der Wiese war er nicht zu sehen. Vielleicht war er ein Stück in den Wald gelaufen, spielte hinter einem Busch. Ich rief seinen Namen, den er ja durchaus verstand und auf den er in der Regel wie die meisten Kinder und Katzen reagierte, nämlich manchmal. Oder eben erst beim dritten oder vierten Mal. Weshalb ich jetzt wiederholt nach ihm rief. Aber er tauchte nicht auf.
Ich stand von meinem Platz auf. Ziemlich ruhig noch. Warum auch nicht? Wahrscheinlich stand er bloß ungünstig. Ich machte einige Schritte und rief erneut. Und sagte mir:»Na, weit kann er ja nicht sein.«
Sagen das nicht alle, bevor dann die Einsicht folgt, daß es eben doch weiter sein kann als gedacht? Weiter und gefährlicher. Etwa, wenn ein Kind ins Wasser fällt. Wenn es in ein fremdes Auto steigt. Und der Alptraum beginnt.
«Ist dort ein Fluß?«fragte ich.»Hinter dem Wald?«
«Ich weiß nicht«, sagte Kerstin.»Wieso? Hörst du was rauschen? Außerdem … der Simon kann doch schwimmen! Ich meine, als der Sohn eines Bademeisters, ha!«Sie lachte. Aber es war eine Unsicherheit in diesem Lachen. Auch Kerstin hatte sich erhoben, drehte den Kopf gleich einer Eule.
Ich spürte die Panik in mir hochsteigen. Panik im Blut. Freilich noch geteilt von der Erfahrung der letzten Jahre, daß die Kinder dann eben doch kamen, manchmal mit einer Schramme, manchmal mit Tränen, manchmal mit einem Schrecken, aber eben wieder auftauchten. Es waren die anderen, bei denen sie für immer verschwanden, andere, die man in der Regel nur aus der Zeitung und dem Fernsehen kannte. Und betete, daß es auch so bleiben würde.
Die meisten Kinder haben einen Schutzengel. Mir erschien das nicht nur als eine dümmliche Phrase, sondern durchaus real, vielleicht keine Wesen mit Flügeln, aber doch war da etwas: ein Begleiter — ja, ein kleiner kluger Mond, der die Kinder umkreiste. So klein er war, hatte er die Kraft, die Bahn der Kinder zu lenken, sie in entscheidenden Augenblicken einen schnellen Schritt machen zu lassen oder sie genau von diesem Schritt abzuhalten. Oder der Mond dämpfte ihren Fall. Schaffte es, sie um Haaresbreite an einer Stoßstange vorbeizuwinden. Schaffte es, daß sie es sich in letzter Sekunde überlegten und nicht mit einem Fremden mitgingen. Und wofür dieser fürsorgliche Trabant sonst alles sorgte.
Natürlich waren da noch die Eltern und Erzieher und andere Erwachsene, die als Beschützer der Kinder fungierten. Aber es gab Grenzen. Nicht bloß, weil die Kinder größer wurden und man sie nicht einsperren konnte. Auch weil die Konzentration versagte. Selbst die, die mit Argusaugen wachten, versagten. Sosehr man sich anstrengte, man sah nicht jedes Auto kommen. Was nützte es, tausend Jahre keinen Fehler zu machen, aber in einer einzigen Sekunde statt nach links nach rechts zu schauen? Darum gab es sie, die kleinen, schutzengelhaften Monde, die alles taten, um genau auf diese Sekunde vorbereitet zu sein. Nur in gewissen Augenblicken … in gewissen Augenblicken war der Mond müde oder untengegangen und der Himmel leer.
«Simon!!«In meinem Ruf steckte jetzt Wut. Verdammt noch mal, wo steckte der Bub? Warum taten die Kinder einem das an? Immer wieder.
Kerstin meinte:»Er wird dich nicht hören können, da drinnen im Wald.«
«Ja«, sagte ich,»laß uns nachschauen. Du dort drüben, ich auf der anderen Seite.«
Wir gingen los. Wir liefen nicht, aber es war ein Fieber in unseren Schritten.
Einen richtigen Weg in den Wald hinein gab es nicht, bloß einen engen Pfad, den wohl diverse Notdürftige geschaffen hatten. Von einem Moment auf den anderen geriet ich aus der Helle in das tiefgrüne Dunkel, schlug Äste zur Seite, schlug Mücken zur Seite, war aber zu langsam, um einem Spinnennetz auf Kopfhöhe auszuweichen. Die Fäden legten sich als feines Gitter auf mein Gesicht. Ich wischte das Zeug weg, kämpfte mich weiter, rief den Namen meines Sohns, laut und schrill, nun vollständig in der Angst und Sorge angekommen. Auch meinte ich die gurgelnden Geräusche eines Gewässers zu vernehmen.
Wie hieß dieser Film, wo zu Beginn ein Kind ertrinkt? Richtig, Wenn die Gondeln Trauer tragen. Am Ende stirbt Donald Sutherland, weil er einer kleinen Gestalt folgt, die er ebenfalls für ein Kind hält. Er will seinen Fehler nicht wiederholen und macht einen neuen.
Simon war ein Kind der Berge, nicht des Wassers. Und was nützte der Schwimmkurs, wenn man vorher mit dem Kopf auf einen Stein aufschlug und …?
Ich geriet aus dem Wald hinaus. Da war kein Fluß. Überhaupt kein Wasser. Ich mußte mir das eingebildet haben. Einzig die weite Fläche eines erdigen Ackers tat sich vor mir auf. Und in der Mitte … Ich konnte es nicht wirklich glauben. Ich war in Erwartung von etwas Schrecklichem oder von etwas vollkommen Normalem gewesen. Doch die Wirklichkeit bot mir einen Anblick gleich einer Fotocollage.
Simon stand auf dem Feld. Und keine zwei Meter von ihm entfernt ragte die mächtige Gestalt eines Straußenvogels empor. Simon sah hoch, und der Vogel blickte auf ihn hinunter. Beide ganz ruhig, das gewaltige Tier und das schmächtige Kind.
Auf den Moment erlösender Verwunderung folgte nun doch wieder die Furcht, weil ich mich erinnerte, gelesen zu haben, ein ausgewachsener Strauß könne mit einem einzigen Tritt seiner kräftigen Füße einen Menschen töten. Im Falle Simons hätte wohl die halbe Kraft eines solchen Stoßes gereicht.
«Vorsichtig weggehen!«rief ich und näherte mich umgekehrt mit raschen Schritten.
Der Vogel drehte seinen Kopf und sah zu mir herüber. Nun, ich hatte natürlich Simon gemeint. Jedenfalls blieb ich augenblicklich stehen. Das war nämlich das schlimmste, diese Lebensretter, die erst die wirkliche Katastrophe auslösten. Türen eintraten und dabei die hinter den Türen Stehenden umbrachten. Zum Bruce Willis einer tragischen Realität wurden.
Ich tat nun keine Bewegung mehr und senkte meine Stimme, als ich erneut Simon aufforderte, langsam zu mir herüberzukommen. Was er aber nicht tat, sondern unverwandt zu dem Laufvogel aufblickte, der nun gleichfalls wieder seinen kleinen Kopf auf den Jungen richtete. Dabei aber den Hals völlig gerade hielt. In diesem Augenblick meinte ich zu begreifen, daß das Tier dem Kind nichts tun würde.
Über einen Feldweg kam jetzt ein Jeep angefahren, der eine Sandwolke hinter sich herzog. Man konnte meinen, man wäre in Afrika.
«Mensch, was ist das?«vernahm ich Kerstins Stimme in meinem Rücken.
Nicht, daß sie noch nie einen Strauß gesehen hatte.
«Wahrscheinlich ist er ausgebrochen«, sagte ich.»Die haben hier in der Nähe wohl eine Straußenfarm.«
«Und Simon? Versucht er ihn einzufangen?«
«Also ehrlich gesagt, ich glaube eher, er redet mit ihm.«
Denn tatsächlich erkannte ich, wie Simon seinen Mund bewegte. Wegen der Entfernung und wegen des Windes konnte ich nichts verstehen, aber es war eindeutig, daß er zu dem Strauß sprach, der da einen Meter über ihm aufragte. Ob der Strauß nun ebenfalls redete oder einfach nur nach Luft schnappte, hätte ich wirklich nicht sagen können.
Der Wagen hatte angehalten, und mehrere Leute waren ausgestiegen. Zwei trugen lange Stecken mit Schlingen. Einer hielt eine Apparatur, die aussah wie eine zu groß geratene Taschenlampe. Ein automatisches Fangnetz wohl. Sie gaben Geräusche von sich, die das Tier beruhigen beziehungsweise anlocken sollten.
Ein Schrei!
Ich selbst hatte geschrien. Denn für einen Moment hatte ich gedacht, der riesenhafte Vogel würde jetzt doch noch auf Simon zuspringen. In Wirklichkeit aber bewegte er sich an Simon vorbei, ohne diesen im geringsten zu berühren, und ging alsdann in einen raschen Trab und noch rascheren Lauf über. — Daß diese Viecher schnell sein können, ist ja allgemein bekannt. Und war vor Ort deutlich zu erleben. Auch die Fänger beeilten sich, rannten zurück zu ihrem Wagen, wendeten diesen und rauschten wieder davon.