Doch wir schafften es. Wir erreichten Steinach und fuhren von dort wieder auf der recht eben verlaufenden Landesstraße nach Stafflach, wo wir in ein Nebental einbogen, das uns nach St. Jodok führte. Als die Straße aber kurz nach dem Ortsende erneut anfing, steil zu werden, erklärte ich:»Schluß! Es reicht. Für den Rest nehmen wir den Bus.«
Ich wendete und parkte den Wagen im Ortskern gegenüber einem kleinen, wirklich kleinen Supermarkt. Wo sich der Begriff» Super «zu einer größtmöglichen Intimität verdichtete.
Keine halbe Stunde später saßen wir im Postautobus, der nun jene Stelle hochfuhr, die zu bewältigen ich mich gescheut hatte. Ironie des Schicksals war, daß es nach dieser kurzen Passage nur noch flach dahinging, bis ans Ende des Valsertals. Ebener ist kaum noch möglich. Zudem so gut wie kein Verkehr. Das hätte ich mit Leichtigkeit geschafft. Freilich wäre mir dann der Mann entgangen, der nun mit einer Flinte in der Hand in den Bus einstieg, sich links vorn hinsetzte und sich mit dem Fahrer und zwei alten Frauen unterhielt. Simon machte große Augen. Während Kerstin flüsternd überlegte, ob man hier für ein Gewehr wohl einen Extrafahrschein zahlen müsse.
Als sei das eine ernste Frage, meinte ich:»Also, wenn du der Förster bist, sicher nicht.«
Ich versuchte zu begreifen, worüber sich die vier Einheimischen unterhielten, aber keine Chance. Selbst im Ansatz nicht. Ich verstand genausowenig, wie ich verstand, wenn mein Sohn sprach.
Von meinem Standpunkt aus gesehen, war auch Tirolerisch eine Geheimsprache. Zumindest, wenn diese Alten es redeten. Eine deutsche Sprache und dennoch geheim.
Der Mann mit der Flinte und die beiden Frauen stiegen schon etwas früher aus, während wir drei bis zum Ende dieses so ungemein locker besiedelten Tales fuhren. Letztendlich hielt der Bus am absoluten Ende der Straße, an einem einzelnen Haus, einer Wirtschaft namens Touristenrast.
Obgleich ich einst — aus einem geborstenen Flugzeug geworfen — auf den Weiten eines fremden Meeres dahingetrieben war, hatte ich hier zum ersten Mal das Gefühl, wirklich am Ende der Welt zu sein beziehungsweise am Anfang vom Ende der Welt. Das Haus als Grenzstation, sodann ein Gatter und dahinter ein lange sich streckender, sachte ansteigender Güterweg, den wir nun in der Mittagshitze aufwärts marschierten. Entlang einem Gebirgsbach, dessen Stimme dröhnend den enger werdenden Kessel füllte. Hoch oben die Berge des Tuxer Kamms, der aber nicht zu den Tuxer Alpen gehörte, sondern zu den Zillertaler. Laut Kerstin.
Simon hatte sich seine Skibrille aufgesetzt. Was überhaupt nicht lächerlich aussah. Ich fragte mich im nachhinein, wieso ich ein solches Theater wegen des Kaufs gemacht hatte. Andere benötigten eine Brille für den Sommer und eine für den Winter, nicht Simon.
Der Weg zog sich. Ein Glück, daß man sich immer wieder am kalten Wasser, das hier überall aus dem Berg strömte, erfrischen konnte. Nirgends Menschen. Erst kurz nachdem wir die Talstation eines Materiallifts passiert und die schattige, aber nun zusehends steil und steiler aufsteigende Waldzone erreicht hatten, kamen uns ein paar Leute entgegen. Sie bedachten uns mit dem hiesigen» Griaß Eich!«. Ich bemühte mich um ein ebensolches. Kerstin beließ es bei einem» Grüß Gott!«. Simon hob die Hand und streckte einen Daumen. Er fühlte sich sichtlich wohl, als nun der Weg schwieriger wurde, große, grobe Steine, kreuz und quer, so daß jeder Schritt auch die Gefahr barg umzuknicken. Gleichzeitig mit der wachsenden Erschöpfung wuchs die Anforderung an die Aufmerksamkeit, nämlich zu schauen, wohin man trat, die Steine im Blick und nicht die Umgebung. Pausen legten wir kaum ein, zu sehr bestimmte Simon den Rhythmus.
Als wir aus dem Wald gerieten — erneut ein Gatter erreichend, hinter dem das Grün einer Alm saftig und fett dalag — , sah ich ihn zum ersten Mal in natura: Astris Berg. Eine Pyramide aus Granit, helles Grau, silbrig, auch bläulich, gefleckt vom Schatten einer Wolke. Und mein erster Gedanke war, daß das in der Tat ein wirklich schöner Berg war und daß es für mich keineswegs unwichtig war, ob Astri auf einem schönen oder weniger schönen Berg gestorben war. Ich will nicht sagen, er, der Berg, wäre es wert gewesen, dort umzukommen. Aber ich glaube, daß Astri es genau so formuliert hätte. Andere starben für Vaterländer oder Gewinnsteigerungen, nicht wenige für die vielen ungesunden Mahlzeiten ihrer Erdjahre und manche eben für Berge. Und ein Glück, wenn es nicht der falsche Berg war.
Das war nun mal mein Gefühl, als ich die Erhebung jetzt zum ersten Mal sah, wie richtig dieser Berg war.
Ich machte ein Foto mit dem iPad. Was natürlich komisch aussieht, als halte man sich da ein Brett vors Gesicht. Simon lachte. Kerstin meinte, es erinnere sie an diese Aluminiumfolien, die sich die Menschen in den Sechzigern zum Braunwerden unters Kinn gehalten hatten.
Ein iPad, mit dem man braun wird! — Mein Gott, früher wäre das eine Idee gewesen, aus der ich ein Geschäft gemacht hätte.
Wir gingen weiter, durchquerten hochwandernd die Alm und gerieten wieder an einen Bach, der in seinem Felsbett steil nach unten schoß und den man auf einer kurzen Brücke überqueren mußte. Nie war eine Brücke simpler gewesen: vernagelte Bretter mit schmalen Ritzen, die ohne jegliches Geländer auskamen. Selbst in vielen Abenteuerfilmen gab es Brüstungen, warum nicht hier? Auch war das Ding bloß mit einem Draht fixiert worden.
Es sah wirklich gefährlich aus. Ich verspürte einen kindlichen Zorn in mir. So einen, der dazu führt, daß man stur die Arme verschränkt und erklärt:»Ich gehe da nicht drüber. Und wenn ihr euch aufhängt. Und wenn ich hundert Jahre Fernsehverbot bekomme.«
Aber noch bevor ich dergleichen von mir geben konnte, hatte Simon nach meiner Hand gegriffen. Er hatte seine Skibrille hochgezogen und schaute mich mit seinen schwarzen, großen Augen an, deren lange Wimpern eine Allee bildeten, Wimpern, von denen manche Frauen in Stuttgart meinten, es sei eine Gemeinheit, daß dieser Junge sie besitze, wo er sie doch gar nicht nötig habe. Erst jetzt fiel mir ein, wie sehr Simons lange Augenhaare zu denen eines Straußenvogels paßten. Aber das war in diesem Moment nicht der Punkt. Sondern wie sehr der Junge bemüht war, mir die Angst zu nehmen. Sein Lächeln umklammerte meine Sorge.
Keine Frage, er war bereit, mich an der Hand über den Steg zu führen, der freilich nicht nur ohne Geländer war, sondern auch recht schmal. Seite an Seite wäre es zu eng gewesen.
«Geh du vor«, bat ich Simon.
Er verstand mich, marschierte los. Ich in seinem Schatten. In der Mitte aber blieb ich plötzlich stehen. Und zwar nicht aus Panik — obgleich ich durchaus eine solche verspürte — , sondern um dieser Panik eins auszuwischen. Denn sowenig ich den Anblick des Abgrunds ertrug, zog ich ausgerechnet jetzt das iPad aus dem Rucksack, hielt es mir erneut vors Gesicht, öffnete das Fotoprogramm und tippte auf das Symbol des Auslösers. Dabei meinte ich, meine Beine nicht mehr zu spüren. Nicht nur einfach taub, sondern aufgelöst, verschwunden. Mein Rumpf schwebte. Aber er schwebte etwas unruhig, schaukelte im Wind. Gleichzeitig empfand ich eine Begeisterung ob meiner Handlung. Ich fiel nicht um und auch nicht in Ohnmacht, sondern packte das iPad wieder ein und beendete den Gang. Gewissermaßen das kurze Stück auch ohne Beine überwindend.
Nachdem wir alle die Brücke passiert hatten, fragte mich Kerstin:»Was war das denn grad?«
«Der Triumph des Willens.«
«Du weißt aber schon, daß das der Titel von einem Nazifilm ist.«
Stimmt. Doch daran hatte ich nicht gedacht und sagte einfach:»Jetzt ist es halt mein Titel.«
Im Grunde war das auch ein schöner Ausspruch. Wie sehr das Wollen imstande war, die eigene Schwäche auszuhebeln (ironischerweise war es bei den Nationalsozialisten eigentlich umgekehrt gewesen). Aber Kerstin ließ mich nicht gewähren. Sie fragte:»Ist dir eigentlich klar, daß oberhalb von der Hütte ein Bergwerk ist, das die Nazis betrieben haben? Mit Zwangsarbeitern.«