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«Wie bitte?«Ich hatte nicht die geringste Ahnung.»Was für ein Bergwerk denn, um Himmels willen?«

«Du heute mit deinem Willen!«Sie wunderte sich über mich. Daß ich nichts gelesen hatte über den Berg, auf dem meine Schwester gestorben war. Den Berg und was hier alles geschehen war.

«Ich weiß, wie hoch er ist«, sagte ich, aber nicht einmal das stimmte wirklich.

Kerstin klärte mich auf. Dort, wo der Astri-Berg im südlichen Kammverlauf auf seinen Nachbarberg traf, lag eine Scharte, unterhalb derer die Nazis ein Stollensystem zur Gewinnung von Molybdän errichtet hatten.

«Molyb… was?«

«Molybdän. Man hat das zur Härtung von Stahl benötigt. — Panzerrohre!«erläuterte Kerstin und fügte an, daß neben der Berghütte, zu der wir uns gerade bewegten, noch das erste Lager der Zwangsarbeiter zu erkennen sei.

Ich fragte mich, ob man eigentlich irgendeinen Flecken in diesen Ländern Österreich und Deutschland finden konnte, der nicht auf diese Naziweise vergiftet war. Von der Geschichte verdreckt, hier um so mehr, als über das Schicksal der Menschen, die man in der alpinen Höhe verschlissen hatte, nichts bekannt war. So berichtete wenigstens die belesene Kerstin, die auch viel besser wußte, in welcher Position wir uns gerade befanden, wo im Norden, wo in den Zillertaler Alpen und in welcher Entfernung zu Hütte und Gipfel und Bergwerk. Kerstin hatte einen Kompaß in ihrem Kopf.

Doch so prächtig, wie das Wetter war, brauchten wir einfach nur dem markierten Weg zu folgen.

«Klaaf-quaol!«rief Simon und zeigte mit dem Arm nach oben.

Jetzt sah ich sie, die Flagge in der Ferne, Flecken von Blut, die im Wind wehten, wahrscheinlich das Rot-Weiß-Rot der Österreicher. Was sonst? Die Flagge und dann die Hütte, ein vor über hundert Jahren vom Alpenverein in die Landschaft gepflanztes steinernes Haus, welches — wie Kerstin erzählte — interessanterweise lange Zeit der Sektion Gera (Gera in Thüringen) gehört hatte, jedoch nach dem Krieg — nicht ganz unpassend — von den Russen den Österreichern zugesprochen wurde, um freilich später wieder an die Deutschen, diesmal an die bayerischen Landshuter, zurückgegeben zu werden. Die Berge und das Rot-Weiß-Rot waren aber österreichisch geblieben.

Jedenfalls war es eine schöne Hütte, die wir nun schweißnaß erreichten, viel Holz und Stein, kompakt, auf eine hübsche Weise wetterfest, ein Haus, das seinen eigenen Schwierigkeitsgrad bewältigt hatte, ohne verhärtet anzumuten, dazu eine Terrasse, von der man einen herrlichen Weitblick besaß, während im Rücken die aufschießende Gestalt des Astri-Bergs den Himmel deutlich verkleinerte, so nah war man jetzt an dem Brocken aus Granit.

«Auf Astri«, sagte Kerstin, als feierten wir ihren Geburtstag.

«Auf Astri!«rief ich und nickte mit dem Kopf.

Simon tat es mir gleich und sprach ein Wort, das sich anhörte, als würde ein kleiner Helikopter aus seinem Mund schlüpfen und den Berg hochkreiseln.

25

Wir wurden von der Hüttenwirtin herzlich begrüßt und in unser vorbestelltes Vierbettzimmer geführt, einen vollständig in Naturholz eingekleideten Raum, der mir das Gefühl gab, mich in einem der Schlafzimmer der allbekannten sieben Zwerge zu befinden (und tatsächlich existierten auch Matratzenlager für sieben Personen). Wir deponierten das Gepäck und beeilten uns, hinaus auf die Terrasse zu gelangen und unseren Durst zu löschen. Die Wirtin setzte sich zu uns an den Tisch und wollte wissen, welche Pläne wir hätten. Ihr Tirolerisch war in keiner Weise geheim: Deutsch als Gebirgsbach, gurgelnd, aber verständlich.

Ich vermied es, von Astri zu sprechen, die vor ihrem Tod ja ebenfalls auf dieser Hütte gewesen war. Statt dessen erkundigte ich mich nach dem Weg zum ehemaligen Bergwerk.

«Das sind hin und zurück noch mal drei Stunden«, erklärte die Hausherrin und verwies auf die Geröllhalden, die man zu queren hatte.

«Gefährlich?«fragte ich.

«Anstrengend«, antwortete sie und empfahl uns, auf den nächsten Tag zu warten. Immerhin seien fünfhundert Höhenmeter zu bewältigen. Ihr Mann würde morgen eine kleine Gruppe von Wanderern zum Bergwerk führen. Wenn wir wollten, könnten wir uns anschließen. Und den Jungen hierlassen.

Was ich ganz sicher nicht tun würde. Eher war zu überlegen, ob man sich das Bergwerk sparen solle. Aber es reizte mich schon, mir das anzusehen. Einen Stollen in derartiger Höhe, eine dieser Nazimaßlosigkeiten. Wobei mir die Wirtin erzählte, es sei zwar bis zum Ende des Krieges gegraben worden, man hätte aber nie auch nur ein Gramm Molybdän erzeugt. Die Planer waren von viel zu optimistischen Annahmen ausgegangen, den Berg als ein verpacktes Geschenk begreifend, bei dem man sich einen bestimmten Inhalt wünschte. Aber so ist das oft mit den Geschenken. Einmal ausgepackt, ist es schlimmer, als hätte man gar nichts bekommen.

Jedenfalls entwickelte sich das Ganze zum Desaster. Es war der übliche» Triumph der Blödheit«. Obgleich bereits im zweiundvierziger Jahr das Wirtschaftsministerium die Sinnlosigkeit des Unterfangens erkannte, und später dann, 1944, auch das Rüstungsministerium, hörte man trotzdem nicht auf, wohl aus der» Logik «heraus, schon einmal damit angefangen und bereits eine Menge Geld investiert zu haben. Und so investierte man weiter, ohne jemals einen Nutzen zu erhalten. (Klar, das war bei den Nazis gewesen. Solche Dinge geschahen heute nicht mehr.)

Nach dem Krieg hatte man sich auch im Valsertal dem Vergessen hingegeben (wie man sich mangels eines vergebenden Gottes eben selbst vergibt), und 1989 war das Österreichische Bundesheer angetreten, eine letzte Bereinigung vorzunehmen, indem man die bei der Nockeralm gelegene Aufbereitungsanlage sprengte. Die Namen der Menschen, die man unter Zwang hierhergebracht hatte, um unter extremen, mitunter todbringenden Mühen in den Berg einzudringen, waren quasi mitgesprengt worden.

«Na und!«könnte ein Zyniker sagen.»Die Leute, die beim Bau heutiger Hochhäuser und Staudämme und Tunnels beteiligt sind, kennt man ebensowenig beim Namen, oder? Und die sind nachher auch nicht alle gesund und fröhlich.«

«Die werden aber nicht gezwungen.«

«Nein? Wirklich nicht?«

Als die Wirtin gegangen war, sah ich auf die Uhr. Es war vier Uhr am Nachmittag, der Tag lange nicht vorbei. Wir hatten Ende August, und die Sonne würde erst um acht untergehen. In solcher Höhe konnte man ihr Abtauchen auch wirklich beobachten, nicht bloß ahnen, weil irgendeine Häuserwand rötlich schimmerte.

Ich beschloß, noch ein wenig nach oben zu marschieren. Näher an Astris Berg zu geraten.

Kerstin staunte.»Bist du gar nicht erschöpft?«

«Nein. Eher etwas aufgedreht. Vielleicht so eine Art Höhenrausch.«

«Na, ich jedenfalls bleibe hier«, sagte Kerstin. Sie wollte den Rest des Tages auf der Terrasse zubringen und in einem Buch lesen. Als sie bereits darin versunken war und ich in ihrem Rücken stand, konnte ich für einen Moment die Bleistiftkritzeleien sehen, die den gesamten Rand der Buchseite schmückten. Kritzeleien von ihrer Hand, der frühpensionierten Künstlerin. Was auch sonst? Sehr fein, fadenförmig, ein Gewebe, das sich an manchen Stellen zusammenzog, dunkel wurde, dicht, eine Gestalt entwickelte, aber nie konkrete Züge annahm, wie man sagt, ein Gesicht oder ein Tisch seien konkret. Floral, aber geometrisch floraclass="underline" Man stelle sich vor, ein Geometriebuch könnte blühen. — Nicht, daß ich viel hatte sehen können, aber es erinnerte mich doch recht stark an die Zeichnungen, die Simon anzufertigen pflegte. Freilich stellt die Parallele zwischen Kind und Künstler heutzutage einen Allgemeinplatz dar.

Einerseits.

Andererseits … ich kehrte zurück, um nochmals Kerstin über die Schulter und ins Buch schauen zu können.