Sie wandte sich abrupt um.»Was ist denn?«
«Gar nichts. Ich wollte dir nur noch einen Kuß geben.«
Sie klappte das Buch zu und beugte sich zurück. Ich drückte meinen Mund auf ihre Stirn. Es zischte ein bißchen, so feucht waren meine Lippen und so sehr glühte ihre Haut von der niederbrennenden Sonne. Man könnte auch sagen, es zischte, weil dieser Kuß eine Lüge war, denn meine Augen waren auf das Buch gerichtet. Irgendein Krimi, was mich ziemlich enttäuschte. Banales Zeug. Allerdings war es mir gelungen, vor dem Zuklappen noch einen weiteren kurzen Blick auf das kunstvolle Gekritzel zu erhaschen, einen Blick, der meinen ersten Eindruck nicht nur bestätigte, sondern auch verstärkte. — Total simonlike!
Nun war freilich nicht auszuschließen, daß es ja auch tatsächlich Simon gewesen war, von dem das hier stammte, etwa, weil Kerstin ihm erlaubt hatte, in diesem in jeder Hinsicht billigen Taschenbuch seine graphischen Kürzel zu verewigen.
Wenn aber nicht?
War es nicht Kerstin gewesen, die mit aller Kraft — und möglicherweise mit diversen illegalen Tricks — die Ausreise Simons aus Taiwan betrieben hatte? So wie seine Adoption durch mich? Und noch was: Vor Kerstin auf dem Tisch lag zwischen ihrem Halstuch und dem Brillenetui ein Bleistift.
Während ich da meine Lippen wieder von ihrer Stirn löste, stellte ich mir vor, daß Kerstin durchaus in der Lage war, Simon zu verstehen und zu begreifen. Stellte mir vor, die beiden würden über ein gemeinsames System von Zeichen verfügen. Und daraus folgend auch über eine gemeinsame Sprache. Gleich zwei alten Tirolern.
Ich grinste ob solcher Gedanken.
«Was grinst du so?«fragte Kerstin, die noch immer ihr Gesicht nach hinten gerichtet und das Buch geschlossen hatte.
«Ich dachte mir grad«, sagte ich,»daß du also doch zeichnest. — Ich meine, weil dort ein Bleistift liegt.«
«Den hat mir dein Sohn geliehen. «Und dann sagte sie:»Geht endlich los, damit es nicht zu spät wird.«
«Du weichst mir aus.«
Sie sagte» Ja «und vollzog mit ihrer Hand die wegwerfende Bewegung eines Verkehrspolizisten. Als schmeiße sie mich aus ihrer Wohnung.
Ich machte mich mit Simon auf den Weg in Richtung zur sogenannten Alpeiner Scharte. Vor uns Astris Berg, dessen Wände im Wechsel von Sonnenlicht und rasch dahinziehenden Wolkenschatten an die schillernden Schuppen eines Fisches erinnerten.
Warum mußte ich immer wieder an Fische denken? Nur wegen dieses Wals, der ja gar kein Fisch gewesen war? — Nun, die Welt der Assoziationen liebt auch die Irrtümer. Die Irrtümer ganz besonders.
Kurz nach der Hütte, dort, wo ein letzter Streifen von sattem Grün einen Bergteppich bildete, kamen wir an ein Hinweisschild. Rechter Hand wiesen sämtliche Pfeile hinüber zur Scharte, die man überwinden mußte, um zu weiteren Hütten zu gelangen.
«Na, schauen wir mal«, sagte ich zu Simon.
Er nickte mir zu, nun wieder mit» verbundenen «Augen. Die khakifarbene Spiegelung seiner Skibrille verlieh ihm eine kosmonautische Wirkung. Ein kleiner Russe.
Es wurde jetzt wirklich steil, allerdings in einer Weise, die meine Beine beanspruchte, aber nicht meine Höhenangst. Keine Schluchten, keine schmalen Brücken. Zudem bemerkte ich eine Euphorie, eine gewisse Leichtigkeit, als wäre der Wind, der hier oben kräftig pfiff und einen umkreiste, ein perfekter Panzer.
Wenn man auf einen Berg geht, dann schaut man die meiste Zeit auf den Boden. Nur hin und wieder blieb ich stehen, um den Felsen hochzusehen, wobei wir uns gewissermaßen auf der» falschen «Seite befanden, auf der Südseite, während Astri beim Aufstieg über die klassische Nordkante verunglückt war. Andererseits war es so, daß, wenn sie überlebt hätte, sie etwa an dieser Stelle heruntergekommen wäre.
Nach einer Dreiviertelstunde — nun mit Blick auf einen Klettergarten am Fuße der Südwand, einen Garten, in dem ein paar bunt behelmte Menschen gleich Früchten hingen — entschied ich, eine Pause einzulegen. So wie ich entschied, hernach wieder zurück zur Hütte zu marschieren. Ich packte die Brote aus und zerteilte einen Apfel mit einem Taschenmesser, fein säuberlich das Kerngehäuse herausschneidend.
Wir saßen auf Steinen und aßen präparierten Apfel. Während mein Blick hinunter ins Tal und hinüber auf die fernen Gipfel ging, lehnte Simon an meinem Rücken und betrachtete den Klettergarten. Ich konnte mir vorstellen, wie sehr er sich danach sehnte. Aber ich wollte nicht, daß er im natürlichen Fels kletterte. Noch nicht. — Man wäre kein richtiger Vater, wären da nicht auch Verbote.
Ich schloß die Augen. Meine Zähne steckten in einem süßlichsauren Kugelausschnitt. Halb schlief ich ein.
Ich bemerkte nicht gleich, wie sich Simons fliegengewichtiger Gegendruck von meinem Rücken löste. Als ich mich schließlich umdrehte, war er schon ein ganzes Stück den Berg weiter nach oben marschiert. Er winkte mir. Ich winkte zurück, aber zu mir hin, um ihm klarzumachen, er möge zurückkehren.
In der Regel verstand mich Simon. Auf die eine oder andere Weise. Und in der Regel folgte er dem, was ich verlangte. Jetzt aber nicht. Er ging einfach weiter.
«Verdammt noch mal! Was soll das?«fluchte ich.»So viel Zeit haben wir nicht.«
Aber das war unrichtig. Wir hatten genügend Zeit. Es würde sich ganz gut ausgehen, das Bergwerk zu erreichen und vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück an der Hütte zu sein. Das schon. Aber es erschien mir einfach vernünftiger, erst morgen … Simon war schließlich ein erst neunjähriges Kind!
Ja, aber was für eins! Ein in den Bergen groß gewordenes. Gemsengleich.
Ich darf sagen, meine Philosophie war immer die: Alles, was geschieht, ist ohne Alternative. Die Alternative bilden wir uns nur nachträglich ein. Das ist vielleicht überhaupt unsere einzige Freiheit zu phantasieren, wie es hätte sein können.
Ich schüttelte den Kopf, nahm den Rucksack, löste das verschwitzte Hemd von meiner Haut — so daß der Wind seine kühle Hand dazwischenlegen konnte — und beeilte mich, hinter Simon herzukommen.
Hätte ich eine Gefahr wahrgenommen, ich wäre auch bereit gewesen, ihn an der Hand zu packen und nach unten zu zerren. Und keine Träne (und eben auch keine Alternative) hätte mich davon abgehalten. Aber es ging zügig voran, und der Himmel war eine einzige fröhliche Wetternachricht.
Und dann endlich erreichten wir die Überreste des Bergwerks: das Metallgerüst einer Seilbahnstütze, das Fundament des Barackenlagers sowie das Mundloch, einen gemauerten Stolleneingang, der von außen an einen mächtigen Pizzaofen erinnerte, aber für einen Bergwerksschacht eher heinzelmännisch anmutete.
Wir hatten es also geschafft. Wobei ja genau das nicht das Ziel gewesen war, so spät am Tag hierherzukommen.
Wie auch immer, ich sah auf die Uhr und sagte:»Immerhin, Simon, wir waren echt flott.«
Ich legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und tat dabei ein wenig mehr Gewicht in meine Hand, ohne aber zu drücken. Eher so, als hätte ich noch etwas Butter auf meine Hand geschmiert.
Simon drehte seinen Kopf nach rechts, schaute auf die weite Bergwelt und rief:»Kandall!«
Ich schmunzelte bei dem Gedanken, er könnte das Wort Skandal gemeint haben und wie sehr eben die Schönheit der Natur auch einen Skandal darstellte, etwas Unerhörtes.
Wir stiegen die wenigen Meter zum Mundloch hoch und taten einige Schritte in den Stollen.
So interessiert ich gewesen war, diese Anlage zu Gesicht zu bekommen, scheute ich mich jetzt, tiefer einzudringen. Ich empfand Stollen und Höhlen als die Verwandten der Klettersteige und Felswände. Gefährliche Orte, die alle aus einer Familie stammten, jener, zu der auch die Tiefsee und das Weltall gehörten. Das Innere der Berge schien recht absichtsvoll sowenig für den Menschen geschaffen wie die hohen Lüfte und der kalte Raum.