Spuk hin oder her, ich hatte jetzt das Bedürfnis, aufzustehen und meine alte Schwester zu umarmen. Aber es war schon so, wie das aus vielen Träumen bekannt ist. Ich klebte fest.
Immerhin, meine Zunge klebte nicht fest, auch fielen mir nicht — wie so oft — sämtliche Zähne aus dem Mund. Meine Sprache war ein ruhig dahingleitender Zug, den nichts behinderte. Ich erklärte Astri, mich einfach nicht erinnern zu können, ihr schon früher mal im Traum begegnet zu sein.
«Bist du ja auch nicht. Es ist heute wirklich das erste Mal.«
«Und warum?«
«Weil es vorher zu gefährlich war.«
«Wieso zu gefährlich?«
«Wenn man sich durch den Traum eines Lebenden bewegt, sollte es ein guter Traum sein, ein freundlicher, und wenn schon kein freundlicher, wenigstens einer, in dem nicht ständig Türen aufgehen, hinter denen maskierte Folterer stehen oder irgend jemands Vater mit heruntergelassener Hose und alte Frauen mit riesenhaften Brüsten. Nichts gegen ein Abenteuer im Traum, eine Schwierigkeit, einen Schmerz, aber viele Menschen träumen entweder einen Horror oder eine Geschmacklosigkeit. Klar, es gibt Tote, die mögen das, finden’s geil, wie da im Traum alles, was sie an Schrecken kennen, noch ein wenig absurder daherkommt. Diesmal aber ohne Strafverfolgung. — Ist dir schon mal aufgefallen, wie selten es in Träumen Polizisten gibt? Also, ich meine nicht Polizisten, die einen prügeln oder quälen, sondern einen retten.«
«Stimmt«, sagte ich, äußerte dann aber die Vermutung, daß möglicherweise wenigstens die Polizisten selbst solche Träume von» guten Polizisten «besaßen.
Astri gab ein abfälliges Geräusch von sich, als würde eine alte Dose Katzenfutter von selbst aufgehen.
Ich fragte sie … nein, ich behauptete, meine Träume könnten doch in all diesen Jahren nicht ganz so fürchterlich gewesen sein.
«Tendenziell schon«, sagte Astri,»vergiß aber nicht, nur weil ich tot bin, kann ich ja nicht in die Zukunft sehen, also auch nicht in die Zukunft eines Traums. Ich kann also nicht sagen, was hier bei dir als nächstes geschieht. Andererseits hat jeder Träumende einen Ruf, einen guten oder schlechten. Deiner war nicht gut … bis vor kurzem. Wobei sich ein neuer Ruf erst noch durchsetzen muß. Das muß ja erst mal auffallen, daß jemand begonnen hat, anders zu träumen als bislang. Bei einem Drogenbaron, der in die Sozialarbeit wechselt, braucht es schließlich auch eine Weile, bis man ihm das ernsthaft glauben kann und nicht Angst haben muß, einem perfiden Schwindel aufzusitzen, oder?«
«Du hast recht«, sagte ich, auch wenn ich den Vergleich mit einem Drogenbaron etwas hoch gegriffen fand. Dann meinte ich:»Mein Leben hat sich stark verändert, jetzt mit dem Kind.«
«Ja, ich weiß, es ist sehr, sehr gut, daß du Simon hast und er dich.«
«Nur mit dem Reden ist es ein bißchen schwierig.«
«Ach, die Lebenden überschätzen gerne die Sprache. — Ihr beide kommt doch gut zurecht, oder?«
«Woher willst du das wissen? Ich dachte, die Toten lebten allein in den Träumen der Lebenden. Und ansonsten wär’s eher so, wie die Atheisten sich das Totsein vorstellen. Vom Stöhnen und Räuspern mal abgesehen.«
Astri kam jetzt ganz nahe heran und setzte sich wie ein kleines Mädchen auf meine Schenkel. Auch wenn sie gealtert war, war sie noch immer so federleicht wie in ihrer Jugend, nicht gewichtslos, wie man sich das bei einem Geist vorstellt, sondern eben einfach so, als sei kein Gramm hinzugekommen. Wovon auch? In den wenigsten Träumen wird viel gegessen. Eher hungern die Leute und dursten im Angesicht mysteriös sich leerender Gläser. Der Traum von riesigen Schnitzeln ist bloß ein kolportierter der Lebensmittelindustrie. Die Traumwirklichkeit sieht anders aus.
Ich konnte jetzt ihren Mund sehr deutlich sehen: die schönen, vollen Lippen, die mir schon früher als viel zu sinnlich erschienen waren, so, wie die alten Bergianerinnen die langen Wimpern Simons» beklagt «hatten. Was brauchte ein asexueller Mensch solche Lippen, erst recht, wenn er tot war? Aber die Verteilung der Gaben in der Natur ist prinzipiell ungerecht und oft sinnlos.
Aus diesen sinnlos schönen Lippen drang nun der warme Wind der Worte. Astri betonte, wie sehr der Alltag eines Menschen in seine Träume übergehe. Man müsse sich das wie eine lange Reihe von Fotos vorstellen, die die Gänge eines Traums ausgestalten und eine Biographie widerspiegeln. Und zwar sehr viel genauer als diese Bücher, die da heißen Mein Leben oder Unter Wölfen oder Gesammelter Briefverkehr, oder auch nur als geheime Bekenntnisse in den Beichtstühlen der Priester oder den Praxen der Analytiker ein ätherisches Fossil bilden. Nein, auch wenn sie erst vor kurzem diesen Raum betreten habe, meinen Raum, wisse sie ganz gut Bescheid, wisse, wie sehr der Umstand, mit diesem Kind zusammen zu sein, mein Leben verändert habe. Mein Leben und daraus folgend meine Träume. Träume, durch die man nun schreiten könne, ohne daß irgendwelche Brotlaibe ihre Mäuler aufrissen und ein Gebiß scharfer, spitzer Zähne offenbarten.
Das widersprach nun stark meiner eigener Vorstellung Träume betreffend. Ich hatte es bislang für naiv gehalten zu meinen, die besseren Menschen hätten auch die besseren Träume. Aber so hatte es Astri ja auch nicht gesagt, sondern allein einen gewissen Komfort für sich selbst behauptet. Eine geringere Gefahrendichte. Weniger einstürzende Brücken und explodierende Bankkonten. Nicht ständig eine Mutter, die die Beine spreizt und angesichts deren sich in der Folge der Träumende zu Unaussprechlichem versteigt. Keine ausgeweideten Leiber und Rasierklingenspiele. Keine Schoßhunde, die sich in ein Wesen aus einem Roman von Dean Koontz verwandeln, und ähnliches. Astris Anspruch bezog sich nicht auf eine reine Idylle, auf eine quasi umgekehrte Verdrängung, bei der das Unterbewußtsein alles Häßliche aussonderte, sondern … nun, man könnte es als Normalität bezeichnen, eine Welt des Gleichmaßes. Eine Welt, in der Brotlaibe auch mal alt und hart oder verschimmelt sein konnten, ohne darum spitzzahnige Dämonen zu beherbergen.
Träume ohne Extreme.
Ja, aber war Astri nicht genau das gewesen, zumindest in einer Sache: nämlich extrem?
Ich fragte sie:»Kletterst du noch?«
«Du meinst auf Bergen.«
«Oder auf Kirchen oder Hochhäusern oder worauf die Leute im Leben und im Traum sonst noch herumkraxeln.«
«Ja, es gibt solche Träume, aber man muß schon sagen, es wird dort selten glücklich geklettert.«
Wie sollte ich das verstehen? Daß, wenn dem Träumenden ein Mißgeschick zustieß, es damit auch Astri zustieß?
«Das nicht«, sagte sie,»aber es geht um die Atmosphäre. Es tut nicht gut, in einer Welt zum Bergsteigen zu gehen, wo alle um dich herum abstürzen, ein ums andere Mal. Wie Blätter im Herbst. Viele Bergsteiger träumen durchaus gute Dinge, von der Liebe, von Tieren und Kindern, aber nie vom guten Klettern. Sobald sie träumend in den Fels steigen, geschieht ein Unglück.«
«Ein Unglück wie das, das dir wirklich zugestoßen ist«, stellte ich fest.
«Ich kann mich nicht mehr so gut daran erinnern«, erklärte Astri.
«Das ist nicht dein Ernst!«
«Oja. Es ist sehr verschwommen.«
«Du wurdest von einem Blitz getroffen, Astri, oder zumindest von einem Blitz aus dem Fels geschleudert.«
«Ich weiß nicht«, meinte sie mit einem Haarriß in ihrer Stimme, so einer winzig kleinen wunden Stelle im Material, die imstande ist, ganze Flugzeuge zum Absturz zu bringen,»ich weiß nicht, ob das stimmt.«