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Wichtiger aber war, Dr. Senft wiederzusehen. Diesmal an einem Ort, an dem es auch Wein gab. Weshalb ich sie in ein Restaurant einlud, das ihre eigenen Möglichkeiten vermutlich um einiges überstieg. Freilich erschien sie nun ohne den Ärztekittel, den ich an ihr so gewohnt war. Doch ihre Gestalt, ihr Haar — das Blond nahe am Gelb — , die Ohrringe, die sie zu jeder Zeit zu tragen pflegte, vor allem ihre Art zu gehen, vorsichtig auftretend, als schreite sie über heiße Kohlen, wie diese Yogis, die sich niemals verbrennen, dies alles erfüllte sich in der bekannten Weise.

Ich hatte bereits am reservierten Tisch gesessen, erhob mich nun und sagte ihr, wie hübsch sie aussehe und wie gerne ich sie immer wieder aufs neue betrachtete.

«Sie übertreiben.«

«Ach, Sie ahnen gar nicht, wie wenig ich übertreibe.«

Sie schenkte mir ein Lächeln, das als ein schmaler, flockiger Wolkenstreifen den blauen Himmel in ihrem Gesicht kreuzte.

Wir aßen und wir redeten. Dazu gab es den versprochenen Rotwein, eine wirklich teure Flasche, aber kein Wort darüber, was sie kostete, um so mehr, als der Wein nicht sonderlich gut war und sein hoher Preis eher das Klischee von der Blödheit als von der Vornehmheit bestätigt hätte.

Frau Dr. Senft erzählte von Tübingen, wo sie studiert, von Budapest, wo sie eine Zeitlang gearbeitet hatte, erzählte von ihrer Mutter, einer kunstvoll ihr Scheitern kultivierenden Musiklehrerin, die in Stuttgart lebte, sich aber viel zu schade für diese Stadt war.

«Und Ihre Eltern?«fragte sie.

«Kleine Leute«, antwortete ich.

«Zwerge?«

Nein, ich meinte natürlich kleinbürgerlich. So extravagant die schwedische Herkunft des Vaters und das» altkölnische Bewußtsein «der Mutter auch anmuteten, es waren kleine Leute. Nicht ungebildet, nicht dumm, das nicht, der Vater als Arbeiter in einer Kartonagenfabrik, die Mutter als gelernte Friseurin, die später nur noch die eigene Frisur und die des Gatten und der Kinder und von einigen Nachbarn betreute und sich im übrigen um einen Haushalt kümmerte, der nicht einmal geschmacklos war — kein Kitsch oder so — , sondern vor allem gesichtslos. Gesichtslos und staubfrei. Sie jagte den Staub wie einen bösen Geist.

Ich hatte mich für diese beiden Menschen immer geniert, brave Bürger, die sehr spät in ihrem Leben Eltern geworden waren. Im Grunde waren sie nicht peinlich, sondern zurückhaltend in jeder Hinsicht, doch genau diese Zurückhaltung war mir so oft unangenehm gewesen. Diese dumme Demut angesichts der eigenen Mittelmäßigkeit. Dieser Verzicht in allen Dingen. Wie sie ständig sparen mußten, ohne daß dabei eine Ersparnis zutage getreten wäre. Solche Leute arbeiteten und legten Geld zur Seite, aber das Geld blieb immer so klein wie sie selbst.

«Was wollen Sie denn?«meinte meine Ärztin.»Schließlich haben Sie doch selbst Karriere gemacht. Ist das nicht besser als andersherum? Besser, als der Größe seiner Erzeuger hinterherzuhecheln?«

Woraus ich leider den falschen Schluß zog und wieder anfing, von meiner Arbeit zu berichten. Um erneut festzustellen, wie sehr sie das langweilte. Nicht die Mikroprozessoren an sich, die» Bakterien«, doch von denen konnte ich ja wenig erzählen, sondern allein vom Aufbau der Produktionsstätten. Aus purer Selbstachtung blieb ich noch ein wenig beim Jobthema, verlagerte dann aber das Gespräch auf die Kunst, in der Folge auf den Sport, denn dies zu verbinden bewies, daß ich kein Bildungsspießer war. Immerhin pflegte ich regelmäßig über Hürden zu sprinten und wäre dabei beinahe Deutscher Meister geworden.

Sie war keck genug zu fragen:»Und Sie kommen da wirklich drüber?«

Ich erklärte ihr:»Eigentlich fliegt man die meiste Zeit. Das ist das Schöne am Hürdenlauf, das Fliegen.«

«Na, ein bißchen was rennen müssen Sie schon, gell?«

So redeten wir uns durch den Abend, landeten hernach in einer Bar, nahe einer Gruppe kichernder Hostessen. Wobei ich keinesfalls in der Lage gewesen wäre, sagen zu können, ob eine von ihnen …

«Ich bin müde«, sagte Dr. Senft mit einemmal.

Ich aber fragte:»Darf ich Sie Lana nennen?«

«Weil ich müde bin?«

«Nein, weil ich dann eher das Gefühl hätte, Ihnen nahe zu sein. Das Sie kann ruhig bleiben, aber es ist ja ein Unterschied, ob ich eine Lana sieze oder eine Frau Doktor.«

«Na gut, Sixten.«

«Ich will Sie nicht zwingen …«, sagte ich und griff über den kleinen, runden Tisch nach ihrer Hand. Sie schaute hinunter auf die meine, die da schwer auf der ihren lag. Es war eindeutig, daß sie nachdachte. Wohl ein wenig gegen die Wand dachte, die der viele Alkohol und die Stunden eines langen Tages errichtet hatten. Gleichwohl überlegend, ob sie es später bereuen würde, wenn sie jetzt nachgab.

Im Grunde hätte man sagen können: Morgen ist auch noch ein Tag. Aber erstens ist das ja nie hundertprozentig sicher — Kometen, Tsunamis, explodierende Wale — , und zweitens war ich so voller Sehnsucht, sie hier und jetzt zu küssen. Nicht morgen oder übermorgen. Nein, ich wollte es an diesem Abend, in dieser Nacht geschehen lassen, nicht zuletzt aus der Überzeugung, in diesem Moment über den absolut idealen Gehirnzustand zu verfügen, um die wahre Schönheit eines Kusses zu begreifen.

Gehirnzustand? Na, auch Gehirne haben solche und solche Tage.

Jetzt könnte man freilich einwenden, daß das eine Küssen gerne wie das andere daherkam und sich nur die sauschlechten Küsse wirklich vom Rest der Masse abhoben. Aber vielleicht war ich bisher einfach nicht aufmerksam genug gewesen, zu sehr hingerissen vom Empfinden, zuwenig mit dem Kopf dabei.

Im Zuge solcher Einsicht sagte ich — ich sagte es laut, obwohl ich es eigentlich nur hatte denken wollen — , ich sagte also:»Man muß küssen wie ein Schriftsteller.«

«Wie bitte?«

«Meine Güte, verzeihen Sie, Frau Doktor. Ich behaupte nicht, daß Schriftsteller besser küssen.«

«Wieso auch sollten sie?«

«Ich meine nur, daß man sich auf jede einzelne Nuance so konzentrieren sollte, als würde man einen Bericht verfassen, einen Roman schreiben, ein Gedicht.«

«Sie haben eine merkwürdige Art, mich nach einem Kuß zu fragen. Wo Sie doch vorher nicht gefragt haben, ob Sie nach meiner Hand greifen dürfen.«

Richtig, die Hand war noch immer dort, wo ich sie abgelegt hatte, und im Grunde hätte ich ja erst einmal damit anfangen können, genau diesen Zustand mit schriftstellerischer Eindringlichkeit zu würdigen. Aber ich war jetzt halt ganz aufs Küssen versessen. Darum löste ich meine Hand und näherte dafür mein Gesicht dem ihren. Ich konnte mich in ihren Augen spiegeln.

Und dann der Kuß, das spürbare Zögern, mit dem die Lippen endlich den Mund freigaben. Ein Zögern, das sich fortsetzte, ohne sich aber wie eine Beleidigung anzufühlen. Wie man zögert, ins Meer zu gehen, auch wenn man gerne im Wasser ist.

Ihre Zunge fühlte sich so kompakt und fest an, wie ihr Körper aussah. Kein Brett, nicht steif, aber doch wie ein Stein, wenn man sich vorstellt, Steine wären beweglich. Oder Architektur könnte sich bewegen. Häuser, die sich biegen und dehnen und deren Feuchtigkeit vom Regen stammt, der an den Fassaden herunterperlt. Diese Zunge vermittelte in keiner Weise die totale Hingabe, gab sich nicht auf, erniedrigte sich nicht, nur weil das Wort» Liebe «im Raum stand. Im Grunde spürte ich, daß ich diese Frau niemals, wie man so sagt, besitzen würde. Jetzt nicht und später nicht. Aber es ist eben mehr als bloß eine religiöse oder pädagogische Phrase, wie gut etwas sein kann, das man nicht besitzt. Den warmen Wind besitzt man auch nicht, und er tut trotzdem gut. Er kommt halt oder er kommt nicht, das ist seine Freiheit, der wir unterliegen. Und es braucht gar nicht zu verwundern, daß wir um das Wetter noch mehr Theater machen als um die Liebe. Manche interessieren sich für Politik, manche für den Sport, andere flüchten in die Kunst, das Wetter aber interessiert alle. Und heimlich sind alle froh, daß man es weder bestellen noch kaufen, noch erpressen kann. (Obgleich gewisse Nationen, etwa die Chinesen, einiges versuchen, um das Wetter an die Wand zu stellen und zu erschießen.)