«Ja, was denn sonst?«
«Ich könnte gesprungen sein. Ich könnte auch gestoßen worden sein.«
Erneut sagte ich:»Das ist nicht dein Ernst.«
Kerstin hätte sich jetzt sofort beschwert, ich würde mich dauernd wiederholen, aber Astri wirkte nachdenklich und traurig. Sie schien wirklich nicht mehr sagen zu können, was damals geschehen war. Ihr Sterben war ihr ein Rätsel. Gut, es stand ja auch am Anfang des Totseins. Vergleichbar der Geburt und den ersten Monaten eines Lebens, woran sich auch keiner mehr erinnern kann. Für einen Toten war sein Sterben der verschollene Moment.
Als wäre sie genau das, ein Kind, schmiegte sich Astri jetzt an mich. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ihre warme Stirn ruhte an meinem Hals. Ich begann, sie zu wiegen.
In das Schweigen und Wiegen hinein fragte ich:»Bist du Lana einmal begegnet?«
«Wer ist Lana?«
«Simons Mutter.«
«Ach ja, ich hatte nur ein Bild von ihr, keinen Namen. — Nein, ich habe sie nie getroffen. Aber weißt du, es kommt sowieso selten vor, daß zwei Tote sich begegnen. In den Träumen sowenig wie außerhalb. Wie ja auch zwei Lebende selten den gleichen Traum träumen.«
«Vielleicht weiß Lana noch nichts von meinem guten Ruf und bleibt mir darum fern.«
Ich hatte es eigentlich ironisch gemeint. Doch Astri nickte. Nickte, sagte dann aber:»Die meisten toten Mütter halten sich fast immer nur in den Träumen ihrer lebenden Kinder auf. Das ist ganz normal, wenn du stirbst und dein Kind ist noch klein, oder?«
Jetzt war ich es, der nickte. Ich dachte an die Frauenskulptur von Lehmbruck, bei deren Anblick Simon das erste und letzte Mal den Namen seiner Mutter genannt hatte. Und damit überhaupt das einzige Wort aus einer für ihn fremden Sprache.
Ja, ich nickte.
Das Nicken ging über in ein Wiegen und Schmiegen. Es fühlte sich an, als sei Astri meine Zwillingsschwester. Meine lebendige Zwillingsschwester.
Und dann endlich stellte ich die Frage, die sich so unmittelbar aufdrängt, wenn man einem Toten begegnet. Ich fragte nach Gott.
Astri lachte und meinte:»Also, weißt du, so sicher unsereins natürlich sagen kann, es bestehe ein Leben nach dem Tod — und das ist ja nicht nichts — , führt das leider überhaupt nicht dazu, sagen zu können, ob ein Gott existiert oder nicht. Geister ja, man ist ja selber einer. Man kann sich also selbst beweisen, aber trotzdem nicht die Frage beantworten, ob sich hinter alldem ein höheres Wesen verbirgt und das Ganze einen Sinn und Zweck besitzt.«
Schau einer an! Eine bemerkenswerte Möglichkeit, daß nämlich das sogenannte Leben nach dem Tod auch nur eine weitere Laune der Natur darstellt. Eine Fortsetzung des Daseins, aber nicht minder bedeutungslos. Daß letztendlich nicht nur der Leib des Menschen zu Staub zerfällt, sondern irgendwann auch seine Seele.
Woraus sich die Frage ergab, inwieweit der Tod über ein Ende verfügte und nach dem Jenseits ein weiteres Jenseits folgte.
«Es heißt, der Tod endet«, sagte Astri,»dann, wenn man eben alt genug ist und sich von der Erde entfernt. Aber was danach kommt, darüber kann man nur spekulieren. Ich weiß von keinem Toten, der wegging und wiederkam.«
War ich enttäuscht? Nicht wirklich. Im Endeffekt gehörte Gott zu diesen Dingen, deren größter Reiz darin bestand, sich auf sie freuen zu dürfen. Ein Gutschein, dessen Einlösung leicht zu einer Enttäuschung führen konnte. Weil die Dinge selten so großartig waren, wie man sie sich dachte. Nein, im Gutschein selbst lag das ganze Glück. Gott mochte tatsächlich existieren, aber seine schönsten Blüten trieben in unserer Vorstellung.
Astri lächelte. Ich sah, wie sie begann, sich in ihrem Lächeln aufzulösen. Ein sprudelndes Lippenpaar. Ewiges sinnliches Vitamin C. Faktum war freilich, daß ich sie verlor, mich selbst aus meinem Traum herauslöste und in der Folge erwachte.
Schwarz!
Die Kerzen waren ausgegangen und die Stirnlampen abgeschaltet. Ich vernahm den Atem des Kindes, das Schnaufen des kleinen Schläfers. Mir kam es vor, als würde draußen jemand rufen. Aber ich war zu betäubt, um mich aufzurichten. Vielleicht suchte man nach uns. Ganz sicher sogar. Ein Kranz von schlechtem Gewissen umgab mich, half mir aber nicht, in die Aufrechte zu gelangen. Nein, ich blieb liegen und überlegte dumpf, nach meinem Handy zu greifen. Unmittelbar darauf kam mir der Gedanke, wie wenig es hier funktionieren würde, am Berg und im Berg, und schlief erneut ein. Tief und fest.
Was auch immer ich noch träumte, Astri sah ich in dieser Nacht nicht mehr. Was nicht zu bedeuten brauchte, sie sei nicht dagewesen, denn soviel hatte ich bereits begriffen, wie umfangreich meine Träume waren und daß ich selbst nicht an allen Ecken und Enden gleichzeitig sein konnte. Wie ja auch der Architekt eines Hauses leibhaftig nur an einer Stelle stehen kann.
26
Der Tag kam, freilich ohne daß sich ein Schimmer frischen Morgenlichts auf dem Parkett unseres Bergzimmers gespiegelt hätte. Doch Simon hatte bereits wieder seine Stirnlampe angedreht und schmökerte in seinem hundertmal gelesenen Donald-Duck-Heft.
Im Grunde war unsere eigene Situation ein typisches Donald-Duck-Ereignis, das Bürgerliche der Einrichtung mit dem Abenteuerlichen des Ortes verbindend.
«Morgen, Simon!«sagte ich zu meinem Jungen. Er drehte sich zu mir hin und hüstelte — wie eine kleine Maschine, die erst einige Probegänge durchläuft, bevor sie in der Lage ist, einen doppelten Espresso oder dergleichen herzustellen.
Ich ließ ihn noch eine Weile in Ruhe, dann erhob ich mich und sagte:»Komm, Schatz, Kerstin macht sich sicher große Sorgen.«
Ich reichte ihm die Hand, und er ließ sich aus dem Sessel herausziehen. Wir traten zurück in den Stollengang und bewegten uns auf die zunehmende Scheibe des Ausgangs zu. Sodann standen wir in dem steinernen Bogen und schauten hinaus aufs Land.
Was hatte ich erwartet? Eine andere Welt, nur weil mir meine tote Schwester im Traum begegnet war?
Dann aber …
Ich formte mit der flachen Hand ein Vordach entlang meiner Augenbrauen und schaute hinüber zur …
Ich sah sie, ich sah die Sonnen.
Nicht eine Sonne, sondern drei. Eine große und zwei kleine.
Das war doch … Stimmt, ich erinnerte mich, von solchen Erscheinungen einmal gelesen zu haben. Einem optischen Phänomen, bei dem das Licht auf horizontal in der Luft stehende Eisplättchen traf und auf der einen Seite der Eisprismen eintrat und an der übernächsten Seite wieder aus. Daraus resultierten die Lichtkörper rechter oder linker Nebensonnen oder auch beidseitiger, wobei sich selbige stets auf gleicher Höhe mit der tatsächlichen Sonne und in einem Abstand von etwa zweiundzwanzig Grad befanden. Es existierte zwar eine noch seltenere Hunderzwanzig-Grad-Spezialversion …
Nun, das hier war eine Zweiundzwanzigerfassung, allerdings erstaunlich, daß etwas Derartiges in unseren Breitengraden geschah. Daß polare Eiskristalle von ebenmäßigem Wuchs in den Tiroler August gerieten. Als schlüpften Pinguine aus Hühnereiern.
Drei Sonnen sah ich am Himmel steh’n.
Ein altes Schubertlied. Schubert war auch so etwas, was ich von Little Face hatte.
Im Lied von den Nebensonnen erwähnt der Held seine eigenen drei Sonnen, von denen die besten zwei verlorengingen. Nun sehnt er sich nach dem Dunkel, das auch das Abhandenkommen des dritten Sterns mit sich brächte.
Im Dunkel wird mir wohler sein.
Doch so rasch würde es bei uns nicht finster werden. Und auch der Tod, wie ich in dieser Nacht erfahren hatte, bescherte einem nicht das ewige Dunkel. Nicht, solange geträumt wurde.