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Simon hatte sinnvollerweise wieder seine Skibrille aufgesetzt, blickte hinüber zu der himmlischen Dreifaltigkeit und rief:»Kladoor fa! Kladoor fa!«

«Ja, kladoor fa!«gab ich zurück, meinerseits mit Sonnenbrille das Phänomen bestaunend.

Doch lange hielt das» Wunder «der drei Sonnen nicht an. Die beidseitigen Haloerscheinungen lösten sich im warmen Strahl jener Quelle aus, die sie verursacht hatte. Später würde ich feststellen, daß kein Mensch von den drei Sonnen sprach. Als wäre dies niemals geschehen, als hätte ich mir das — in eine Schubertsche Wahnvorstellung geratend — bloß eingebildet. Wäre da nicht Simon gewesen, der ein» Kladoor fa!«von sich gegeben hatte. (Aber das wäre den anderen so erschienen, als berichte jemand von einer Ufosichtung, um dann als Beweis anzuführen, sein Hund sei auch dabeigewesen.)

Wir machten uns auf, um hinunter zur Hütte zu gelangen. Auf halbem Wege kam uns Kerstin entgegen, die von drei Männern der Bergrettung begleitet wurde. Dieselben hatten bereits in der Nacht, mitten in einem überraschend aufgezogenen Sturm, der an mir und Simon völlig unbemerkt vorbeigegangen war, versucht gehabt, zum Bergwerk hochzugelangen, hatten aber umkehren müssen, um nicht vom Berg heruntergefegt zu werden.

Simon und ich schlossen Kerstin in die Arme. Sie zitterte. Ihr Gesicht brannte von Tränen. Aus ihrem trockenen Mund drang eine ungewohnt schwache Stimme:»Ich wußte doch nicht, wo ihr seid.«

«Im Bergwerk«, sagte ich. Und konnte nicht anders, als zu meinen:»So gesehen, hat uns dieser Naziwahnsinn also gerettet.«

«Ohne den wärt ihr doch gar nicht hochmarschiert«, entgegnete Kerstin. Ihre Stimme klang jetzt schon wieder deutlich stärker.

Der Notarzt unter den Bergrettern stellte nun unsere absolute Unversehrtheit fest. Wobei zu meiner Überraschung keiner von den dreien mir eine Predigt, eine» Bergpredigt«, hielt und mir vorwarf, mich und das Kind und letztendlich auch die Retter selbst in Gefahr gebracht zu haben.

Dies bekam ich dann später zu hören, als wir die Hütte erreichten, wo noch weitere Leute der Bergrettung und ebenso die Gäste zusammengekommen waren. So groß die Freude war, uns wohlauf zu sehen, und so freundlich die Blicke, die Simon empfing, so streng fielen jene aus, die mir, dem Vater und Erwachsenen und Erziehungsberechtigten, galten. Ich verspürte den Impuls, davon zu berichten, wie mir Simon quasi davongelaufen war, zuerst den Berg hoch zur Scharte und dann tief hinein in den Bergwerkstollen.

Aber genau das geht natürlich gar nicht, daß man sich auf das eigene Kind herausredet, so berechtigt es sein mag. Nein, ich mußte alles an Schuld auf mich nehmen, zudem einige Formulare der Bergrettung unterzeichnen, was auch immer da an möglichen Kosten auf mich zukam. So ganz entschieden war das jetzt noch nicht und hing wohl vom Bericht des Einsatzleiters ab, immerhin waren sie ohne Hubschrauber und ohne Krankenhaustransport ausgekommen, und der Bergretter sagte ja auch, wenn hier jemand wirklich gelitten habe, dann Kerstin, und wenn hier etwas gutzumachen sei, dann betreffe es» die Mutter des Kindes«— das fand ich wiederum sehr schön, daß er es auf diese Weise ausdrückte. Ich versprach ihm, demnächst Fördermitglied der Tiroler Bergrettung zu werden, auch wenn es Leute gibt, die diese Einrichtung als ein reines Nebenprodukt der Tourismusindustrie ansehen, vergleichbar der Blasmusik und den Skilehrern, und finden, daß die nicht so zu jammern bräuchten wegen der vielen Einsätze und der hohen Kosten.

Kerstin freilich erzählte ich, wie mir Simon enteilt war und wie ich gezwungen gewesen war, ihm tief in den Stollen zu folgen, dort, wo der Boden mit Parkett ausgelegt war.

«Ach was?«meinte Kerstin.»Das wächst dort also, das Parkett? Oder machen so was die Stollenwichtel?«

«Du darfst mir das ruhig glauben. Simon kann …«

Ich wollte sagen, er könne das bestätigen, so wie er die Haloerscheinung hätte bestätigen können, aber ich unterließ es und meinte:»Jedenfalls war es doch eigentlich ein Glück, daß wir dort geblieben sind. Ich meine, angesichts des Unwetters in der Nacht. Von dem wir nicht das geringste bemerkt haben.«

«Vielleicht wart ihr betäubt von den Dämpfen.«

«Was für Dämpfe?«

«Na, zum Beispiel vom Parkettreiniger oder dem neuen Decklack oder so.«

«Wir gehen da noch mal zusammen hoch, und ich zeig dir das Zimmer, das sie dort oben haben.«

«Wer hat das Zimmer dort?«

Es war mitunter wirklich anstrengend, wenn Kerstin alles, was ich sagte, lektorierte. Was fand sie überhaupt an mir, wenn sie mich für einen Deppen hielt? Ich sagte nur noch:»Du wirst schon sehen.«

Dann ging ich unter die Dusche, zum Zähneputzen und Rasieren. Durchaus in der Hoffnung, Kerstin würde mir dorthin folgen, um auch mein Duschen zu lektorieren. Berechtigte Hoffnung, wie ich sagen darf. Simon war derweilen unten bei den Wirtsleuten und ließ sich ein großes Frühstück servieren. Eine Eierspeis, anderswo Rührei genannt. Ich brauchte die Portion nicht zu sehen, um zu wissen, daß sie versuchen würden, den Jungen zu mästen, so dünn, wie er wirkte, erst recht nach dieser Nacht, die er wegen seines verantwortungslosen Vaters in einem Stollen hatte zubringen müssen.

Nach dem Duschen und dem Sex und der Eierspeis machten wir zu dritt einen kleinen Spaziergang, wirklich nicht mehr. Aber das Wetter war wieder traumhaft, die Luft vom nächtlichen Sturm wie von allem Bösen und Schlechten gereinigt. Der Boden warm. Wir saßen im Gras, und Kerstin und Simon zeichneten. Beide hatten einen kleinen Block auf ihren Schenkeln und führten ihre Bleistifte übers Papier. Ja, inmitten von Grün und Braun und Blau vollführten sie schwarzweiße Notizen. Leider zwangen sie mich, etwas abseits zu sitzen. Auch weigerte sich Kerstin, mir ihre Skizzen zu zeigen. Das gehe mich nichts an. Anders Simon, der mir nachher sein Blatt präsentierte.

Es war ein Schock!

Und zwar wirklich. Es wäre so gewesen, als hätte Simon mit einemmal eine Folge klar verständlicher Sätze von sich gegeben, in deutscher Sprache und äußerst gewählt. Denn was ich da sah, war eine so präzise wie stimmungsvolle Studie jener Landschaft, die sich vor uns auftat: Bergketten und Himmel, Wälder nach unten hin, das Gefunkel aus dem Berg tretenden Wassers, ganz am Rand die im zahmen Wind nur leicht bewegte Flagge der Austriaken.

Wenn man an die kunstvollen, aber rein abstrakten (oder scheinbar abstrakten)»Kritzeleien «dachte, die Simon bisher verfertigt hatte, zu Hause wie in der Schule, und nie etwas anderes, dann mutete diese Zeichnung hier wie die Beweisführung eines Künstlers an, so was eben auch zu können. Und sich damit den Respekt der Zweifler und Banausen zu verschaffen. Jedoch nicht auf die simple Art purer Nachmalerei der Natur. Denn auch in dieser Zeichnung stach die Kunst heraus — als ein Untoter, aber ein schöner Untoter. Die Zeichnung zeigte, wie sich das Licht der Sonne in den Gegenständen der Natur eine Oberfläche suchte, um sichtbar zu werden. Und sich dabei auch des Artefakts einer Nationalflagge bediente.

Das alles war verblüffend, vor allem natürlich auch wegen der Plötzlichkeit, mit der es geschehen war. Wie damals, als der Junge das erste Mal eine Kletterwand hochgestiegen, vielmehr hochgelaufen war.

«Schau dir das mal an«, sagte ich zu Kerstin, die sich herüberbeugte. Aber jetzt war es Simon, der den Block zuklappte und die Ansicht verbarg. Womit ich nicht gerechnet hatte, doch offensichtlich besaß Kerstin zwar das Privileg, sich Bleistifte ausborgen zu dürfen, aber nicht das der Betrachtung. Zumindest nicht in diesem Moment.

Ich fragte mich, ob das früher auch schon so gewesen war, daß Simon seine Zeichnungen Kerstin vorenthalten hatte.

Ich war mir wirklich unsicher.

In jedem Fall, es tat mir gut. Das ist nun mal nicht zu ändern, egal, wie aufgeklärt wir uns als Eltern geben und ständig behaupten, es sei völlig okay, wenn die Kinder ihre Liebe verteilen und unterschiedlich ausdrücken. Die Wahrheit ist doch die: Sobald sich das Baby, das Kleinkind, der junge Mensch, schlußendlich der alte Mensch, wenn dieser noch immer unser Sohn oder unsere Tochter ist, an uns schmiegt und nicht an den anderen, tut uns das nicht nur gut, sondern wir erleben es als Triumph. Die Erwachsenen sind die wahren Kinder.