Das Beste war, daß hier in der Hütte, am Berg, in den Ferien, Simon zwischen uns im Bett lag. Ich spürte und roch den Jungen, und Kerstin praktisch durch den Filter des Jungen. Auch Menschen konnten Filter sein, selbst in einem optischen Sinn. So gut Humphrey Bogart grundsätzlich ausgesehen hatte, hatte er noch viel besser gewirkt, wenn er hinter Lauren Bacall gestanden hatte: metallischer, edler.
Und das galt eben auch für Kerstin. Im Weichzeichner Simons war sie doppelt so schön.
Der Anblick tat gut.
Weniger gut tat der Traum, den ich in dieser Nacht hatte und der nun absolut kein Beweis dafür war, daß meine Traumwelt eine soviel bessere geworden war, wie Astri behauptet hatte. Bezeichnenderweise tauchte meine Schwester in diesem Traum auch gar nicht auf. Sondern zwei bewaffnete Männer. Sie traten mit großer Heftigkeit die Tür zu unserem Raum auf, in dem Simon, Kerstin und ich im Bett lagen. Sie sahen nicht aus wie Barbaren, trugen weder Bärte noch Militärjacken, doch ihre automatischen Waffen hielten sie gleich Zeigefingern auf Kerstin gerichtet und sagten:»Wir wollen die Frau. Das Kind darf bleiben.«
Im Gegensatz zu meinem Traum vom Vorabend — in einem parkettierten Bergwerkskabinett — war mir jetzt in keiner Weise klar, daß ich träumte und diese Gestalten also entweder Figuren meiner Einbildung waren oder aber Tote, die sich in meinen Traum eingeschleust hatten und die es sicher nicht störte, wenn es ruppig und pervers zuging.
Sie sahen studiert aus. Doktoranden auf dem Gewalttrip. Jedenfalls war ich entschlossen, nicht zuzulassen, daß sie Kerstin mitnahmen. Ich sprang aus dem Bett und nahm eine breite Haltung an. Ich spürte meinen Brustkorb. Er schmerzte vor lauter Breite. Dann aber griff Kerstin nach meiner Hand und sagte:»Es ist okay so. Sie werden mir nichts tun. «Und an die beiden gerichtet:»Stimmt doch, oder? Ihr werdet mir nichts tun.«
«Wenn du mitspielst«, sagte der eine,»wird es nicht so schlimm werden. Wir sind schließlich keine Monster.«
Nun, das behaupten Monster gerne, keine zu sein. So, wie auch Betrüger sich ungern Betrüger heißen lassen. Theoretisch sind wir alle Engel.
Ich tat einen Schritt auf die beiden zu.
«Müssen wir erst ein Exempel statuieren?«fragte der eine und richtete den Gewehrlauf auf mich.
«Hört auf«, sagte Kerstin,»ich komme ja schon. «Sie drückte Simon an sich. Löste sich und fuhr mir mit der Hand über meine Wange, was mir vorkam, als tätowierte sie mir — mit Stichen in Lichtgeschwindigkeit — ihren Namen auf die Haut. Damit ich ihn, den Namen, auch nie vergessen würde. Sodann ging sie auf die zwei Männer zu.
In diesem Moment erkannte ich hinter den beiden Doktoranden einen Schatten und in diesem Schatten etwas Blitzendes. Ich reagierte so rasch wie intuitiv, indem ich aber nicht etwa eine Attacke startete, sondern neben Simon trat, der jetzt am Bettrand stand, und ihm meine Hand vors Gesicht hielt, um ihn blind zu machen.
Blind für das, was nun geschehen würde.
Der Mann, der hinter den beiden Waffenträgern in den Raum getreten war — vollkommen tonlos — , schlitzte beiden die Kehlen auf. Ohne daß sie auch nur einen Schuß abgeben konnten. Ihre Körper sackten zusammen und fielen zur Erde wie leere Mäntel.
Wie konnte jemand überhaupt so schnell sein? Nun, es war Mercedes. Mercedes, der Messerwerfer, auch wenn mich sein Äußeres, sein Gesicht, seine insgesamt baumlange und baumelnde Gestalt jetzt noch stärker an Little Face erinnerte. Jedenfalls verstand es dieser Mann, ein Messer zu bewegen: als spreche er einen sehr kurzen, aber aussagekräftigen Satz oder eine Phrase, eine Vokabel, eine Formel, eine ewige Weisheit. Eine Weltformel!
Diese Weltformel hatte die beiden Doktoranden das Leben gekostet und uns das Leben bewahrt. Eine gute Formel!
«Was machen wir mit den Leichen?«fragte ich, während ich noch immer die Hand vor Simons Augen hielt. Dabei merkte ich, wie er mit der Zunge über die Handinnenfläche strich, gleich einem Hund oder einer Katze, wenn sie das Salz von der Haut eines Menschen lecken.
Mercedes pfiff zwei Leute aus seinem Messerseminar herbei, welche die beiden Toten mit Leichtigkeit schulterten. Die Lachen von Blut hingen wie Kunststoffschleppen von ihren Hälsen, der Boden dagegen war jetzt blitzblank. Ein dritter Mercedesmann sammelte die Waffen ein und brachte sie fort. Es ging alles so ungemein sauber vonstatten. Vielleicht hatte Astri eben doch recht, und die positive Verwandlung meiner Träume galt auch dort, wo fortgesetzt Bedrohungen stattfanden. Die Perfektion dieser Hinrichtung und die praktische Hygiene waren doch ganz anders als die üblichen Gemetzel.
Ich wollte mich jetzt bei Mercedes bedanken, statt dessen stellte ich eine merkwürdige Frage: nämlich, welchen Beruf ich demnächst ergreifen solle. Offensichtlich hatte ich völlig vergessen, Bademeister zu sein und wie wenig ich daran etwas ändern wollte.
Mercedes hingegen schien die Frage in keiner Weise absonderlich oder unpassend zu finden. Während er mit einem seiner langen Finger über die Schneide des Wurfmessers strich und dabei ein Geräusch erzeugte, als steppe ein Tausendfüßer über eine hauchdünne Tanzfläche, sagte er zu mir:»Werde Geburtshelfer.«
«Meine Güte!«rief ich aus.»Wie soll das gehen?«
Doch Mercedes behauptete, er habe es eilig. Und schon war er verschwunden.
Ich rief ihm etwas nach. Dabei reckte ich beide Hände in die Höhe, so daß ich endlich Simons Gesicht freigab. Ich erkannte seine freundlichen Augen. Er sah aus wie immer. Ganz offensichtlich konnte ihm der Wechsel ins Traumland nichts anhaben.
«Wie hast du geschlafen?«fragte Kerstin über Simons Kopf hinweg.
Aber das geschah dann schon nicht mehr in meinem Traum. Simon schlief noch.
Ich sagte, ich hätte gerade eben geträumt.
«Ich auch«, meinte sie verärgert.
Ich sah ihrem Gesichtsausdruck an, was sie meinte. Es kam immer wieder vor, daß ich — oder jemand, der mir ähnlich war — in einem ihrer Träume auftauchte und dort grob wurde. Ohrfeigen, Tritte und mitunter ein Beischlaf, den ich mir mit Gewalt nahm. Etwas, das im wirklichen Leben noch nie vorgekommen war und ganz sicher auch nie geschehen würde. Kerstin war die Lana meiner zweiten Lebenshälfte (auch wenn ich es ihr gegenüber niemals so ausdrücken würde). Das Absurde war, daß Kerstin mir gerne vorwarf, welches Verhalten ich in ihren Träumen an den Tag legte. Ich beschwerte mich dann natürlich:»Aber das bist doch du, die das träumt.«
Worauf sie erwiderte, nicht für alles im Traum sei der Träumende verantwortlich und auch dort bestehe eine objektive Wahrheit.
«Eine Wahrheit schon, aber …«
Einmal hatte ich mich dazu verstiegen zu meinen, daß die Vergewaltigung möglicherweise auf einen geheimen Wunsch ihrerseits abziele.
Sie hatte geantwortet:»Idiotenpsychologie der Männer.«
Nun, es war einfach schwer, sich gegen etwas zu wehren, was man im Kopf eines anderen Menschen tat.
So wie auch jetzt.
Ich sagte:»Schau mich nicht so bös an.«
Sie schnaufte verächtlich. — Im Grunde war sie ein Morgenmuffel und brauchte halt ihre Zeit, bevor der Ärger über die letzten Minuten des Traums und die ersten Minuten eines neuen Tages verraucht war.
Nach dem Frühstück brachen wir auf. Wir mußten zurück nach Stuttgart. Montag begann die Schule. Ich bedauerte, daß es sich nicht mehr ausging, noch einmal zum Bergwerk hochzusteigen. Ich hätte Kerstin gerne das Zimmer und den Parkettboden gezeigt. Aber wie es schien, hatte sie das unbedingt vermeiden wollen. Ich denke, sie wollte einfach recht behalten mit der Annahme, ich würde hin und wieder ein wenig meschugge sein und mir Dinge einbilden. Einmal sagte sie:»Ich finde, ein Mann, der mit einem Wal zusammengestoßen ist, braucht nicht ganz normal zu sein.«
«Ich bin aber normal«, erklärte ich.
«Ach!«
Es gibt Achs, mit denen könnte man Atomkerne schmelzen.