Bevor wir losgingen, gab ich Herrn Mercedes meine Telefonnummer und meine Mailadresse. Ich gestand ihm allen Ernstes, er habe mir im Traum das Leben gerettet.
«Sie meinen aber nicht«, sagte er,»daß ich darum jetzt verpflichtet bin, Sie auch mal im richtigen Leben zu retten.«
Ich lachte und versicherte ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Ich würde mich nur melden, um ihm hin und wieder einen Gruß zu senden. Vielleicht ein Foto aus dem Bad Berg, wo ich der Meister sei.
Es war dann aber er, Herr Mercedes, der mich anrief. Drei Wochen später, als ein ausgesprochen warmer September dem Ende zuging und kurz nachdem sich Simon seinen ersten Titel im Sportklettern geholt hatte. Mein Wunderkind.
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Vorher aber geschah es, daß ich, als der Bademeister, der ich war, tatsächlich jemanden vor dem Ertrinken rettete. Allerdings doch ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich rettete weder eine herzkranke Seniorin noch einen von den Bodybuildern, die an heißen Tagen durch das lenden-, nabel- oder brusthohe Wasser flanierten und immerhin in die Gefahr gerieten, einen Hitzschlag zu erleiden. Denn heiß wurde es durchaus in diesen Tagen.
So anders es auch kam, keineswegs undramatisch.
Klar, mancher Leser wird jetzt sagen:»Bei dem Kerl ist auch gar nichts normal. «Und kritisieren, daß ich nicht wie andere Leute einfach mit einem fremden Auto zusammenstoßen kann, sondern mir dazu einen Wal aussuche, daß ich im falschen Flugzeug sitzen muß, daß ich nicht Vater werden kann wie andere auch und ein Ausflug aufs Land bei mir in eine Nazistollengeschichte mündet. Und daß ich nicht wie andere Bademeister schlichterdings Badegäste rette. Aber was sollte ich tun? Ab einem bestimmten Moment hatte mein Leben begonnen, eine komplizierte Figur zu beschreiben.
Und wie schon einmal erwähnt, im Bad Berg war es nicht leicht zu ertrinken, das Wasser zu seicht und die Disziplin der Gäste beispiellos.
Zu den Besonderheiten dieser Badeanstalt gehörte, daß ein Entenpaar mit großer Regelmäßigkeit das Außenbecken aufsuchte und in der Manier einer gewollten Bruchlandung auf der Wasseroberfläche aufkam, um dann eine Weile zwischen den Badegästen dahinzutreiben. Manche fanden das süß, andere wiederum versuchten, die beiden wegzujagen. Als Bademeister war ich eigentlich dazu angehalten, die zwei Stockenten zu verscheuchen, doch vom Beckenrand aus war das ziemlich unmöglich, und zu diesem Zweck ins Wasser zu steigen wäre absolut übertrieben gewesen. Zudem waren die Enten ein Beweis für die Qualität des Wassers. Denn das gleiche Paar besuchte auch das nahe gelegene Schwimmbad Leuze, um dort zwischen den Liegenden und in der Sonne Bratenden um Futter zu betteln oder verlorene Krumen aufzuklauben, doch soweit ich informiert war, gingen sie dort niemals zum Baden hin. Anders bei uns, wo weniger gebettelt und mehr geschwommen wurde.
Drei Tage nachdem wir von unserem Tirolausflug zurück waren, stand ich nachmittags am Rande des mit Menschen locker bevölkerten Beckens und beobachtete die beiden Enten, wie sie auf der glatten Fläche des von mir kontrollierten Gewässers landeten. Ein älterer Mann mit blauer Badehaube beschwerte sich, hieb ins Wasser und spritzte die Tiere an. Wurde aber von anderen Badegästen aufgefordert, dies zu unterlassen. Es gab ein kleines verbales Hickhack, während die Enten in einen anderen Teil des Beckens wechselten und dort ruhig herumtrieben. Der Enterich allerdings hatte plötzlich Schlagseite. Wie leicht betrunken. Er erinnerte mich an dieses Pferd aus dem Film Cat Ballou — Hängen sollst du in Wyoming, auf welchem … richtig, auf welchem der betrunkene Lee Marvin sitzt, und auch das Pferd ist betrunken und lehnt schief gegen die Wand und … Der arme Enterich hier war aber ohne Wand, kippte um und geriet mit seiner Oberseite unter Wasser.
Weil man von Enten ja kennt, wie sie mit dem Kopf unter Wasser und dem Schwanz in die Höhe gehen, schienen im ersten Moment alle einen normalen, bloß etwas ungeschickten Tauchgang zu vermuten. Aber es war eben doch ganz anders: Nicht der Schwanz war in der Höhe, sondern die Beine. Und dabei blieb es auch. Jemand meinte lachend, das sei wohl eine Zirkusente. Dann aber entwickelte sich eine gewisse Aufregung, die darin bestand, daß die Leute auf das Tier hinzeigten, diverse Rufe und Töne ausstießen, niemand aber es wagte, dem Umgekippten zu Hilfe zu eilen. Wer faßt schon eine Ente an? Und wer kann sich ernsthaft vorstellen, eine Ente könnte ertrinken?
«Herr Sixten!«riefen mehrere Damen.
Sollte ich das Hemd ausziehen? Tun das Bademeister, bevor sie ins Wasser springen? Oder eigentlich nur Männer in Filmen, die jede Situa tion ausnutzen, um ihre nackten Oberkörper zu zei gen? Und war es angesichts eines zu rettenden Entenvogels überhaupt angebracht zu springen, an statt über eine der Treppen ins Becken zu stei gen?
Doch die Treppen waren zu weit weg und jede Rettung verlangt auch eine gewisse Vehemenz.
Ich befreite mich mit einer einzigen zügigen Bewegung von meinem Leibchen und sprang mit einem sehr flachen Kopfsprung ins Wasser, tauchte mehrere Meter, brach kurz durch die Oberfläche, sank wieder tief ein und tauchte unter die Ente.
Obgleich die Sichtverhältnisse in diesem Wasser eher dem eines natürlichen Sees entsprachen, fiel das Licht günstig genug, um klar zu erkennen, wie leblos der Kopf des Erpels» herunterbaumelte«. Das war ganz sicher keine Tauchübung, die der kleine Kerl praktizierte. Ich griff mit einer Hand nach dem Körper, und indem ich hochkam, beförderte ich zugleich das Tier aus dem Wasser, faßte es nun auch mit der anderen Hand und marschierte mit dem regungslosen Wesen an Land. Hinter mir einerseits ein paar besorgte Badegäste, andererseits das Entenweibchen, welches aber nicht etwa drohende Laute von sich gab, sondern eher» vernünftig «schien, einfach nur in der Nähe blieb. Am Beckenrand legte ich den Enterich seitlich auf den warmen Beton.
Und was jetzt? Hat je ein Mensch versucht, eine Ente wiederzubeleben?
Ich stand hilflos vor dem flach dahingestreckten Körper.
«Tun Sie doch was!«mahnte jemand hinter mir.
Eine Dame aber fauchte:»Mein Gott, was soll er denn tun?«
Jemand dritter erkundigte sich allen Ernstes, ob nicht irgendwo ein Arzt sei.
«Man könnte einen ausrufen lassen«, schlug eine vierte Person vor.
«Hat jemand Riechsalz?«
«Ein totes Tier ist verdammt noch mal ein totes Tier.«
Andere sagten anderes. Hilfreiches hielt sich dabei in Grenzen.
Ich kniete mich hin, umfaßte mit meinen Händen den Entenrumpf und massierte den Leib. Mir fiel einfach nichts Besseres ein, als gewissermaßen Bewegung in diesen bewegungslosen Körper hineinzutreiben. Wie man ein Rad dadurch in Gang bringt, daß man in die Pedale tritt. — Was ich tat, mochte lächerlich anmuten, aber esoterisch war es nicht.
Nun, es war nicht einmal lächerlich. Denn mit einemmal …
Eines der beiden Augen des Tiers ging auf, nur eines, dann hob der Enterich den Kopf und schnappte nach mir. Ich zog meine Hände zurück und stand auf. Auch der Erpel rappelte sich hoch und geriet auf die Beine, auf denen er aber sehr unsicher stand, stark gespreizt. Ich sah, daß sein rechtes Auge noch immer geschlossen war. Er bewegte sich jetzt langsam nach vorn. Das Weibchen näherte sich ihm, allerdings zögerlich, mit vorgestrecktem Hals. Es schien, als sei sie nicht sicher, ob ihr Partner der war, der er gewesen war, bevor er umgekippt und für einige Zeit unter Wasser geraten war. Wobei Enten ja …
Wie lange konnten Enten unter Wasser bleiben? In der Tat wurde genau diese Frage von den Badegästen diskutiert. Jemand sprach von sechs Minuten, wurde aber darauf hingewiesen, daß so was zwar für irgendwelche Spezialenten gelten mochte, aber sicher nicht für Stockenten, bei denen sei es sehr viel kürzer.
Weniger als beim Menschen?